Philosophische Gedanken und die Psychoanalyse

 

„Irrtümer bildeten schließlich meist die Fundamente der Wahrheit, und wenn man von einem Ding nicht weiß, was es ist, dann bedeutet es schon einen Erkenntniszuwachs, wenn man weiß, was es nicht ist.“ (C. G. Jung, Schluss-Satz von „Aion")

 

 

Einleitung

 

Es haben sich schon einige den Kopf darüber zerbrochen, welche Beziehung es gäbe zwischen der Philosophie, der Liebe zur Weisheit, und der Psychologie oder Psychoanalyse. Die Psychologie war lange als die Lehre von der Seele ein Teilbereich der Philosophie, und in der Schweiz schloss ich mein Studium seinerzeit nicht als Dipl.-Psychologe ab, sondern als lic. phil. Und tatsächlich hatte ich vor Beginn des Psychologiestudiums auch eine Zeitlang Philosophie studiert, so dass mein Interesse an diesem Fach geweckt worden war. Die „Geisteswissenschaften“ unterscheiden sich von den „Naturwissenschaften“, und der menschliche Geist, seine Psyche, sein Denken werden, je nach Ansatz, mit ganz anderen Methoden und Fragestellungen erforscht. Als „praktischer Psychologe“, als Psychotherapeut steht man zwischen diesen Welten. Die „Daseinsanalyse“ zeigt, wie Psychotherapeuten auch theoretische Grundlagen zu schaffen versuchten, um das Philosophische mit dem Psychologischen zu verbinden. Will man den Menschen ganzheitlich verstehen, so muss man auch dessen existenzielle Dimension berücksichtigen und ihn nicht nur als Gestörten mit einer bestimmten Symptomatik behandeln. Es geht um die Sinnfrage, um die Endlichkeit, um die Kriterien eines erfüllten Lebens, um Anpassung und Eigenständigkeit, um Zwang und Freiheit. Natürlich kann der streng naturwissenschaftlich orientierte Fachmann darauf beharren, nur beweisbare oder falsifizierbare Erkenntnisse (Karl Popper) zu berücksichtigen, und alles rein Spekulative und „Transzendente“ beiseite zu lassen. Er wird deshalb vermutlich dem Ansatz von C. G. Jung als „unwissenschaftlich“ und „esoterisch“ mit Misstrauen begegnen und sich gar nicht weiter damit befassen. Und genau da liegt der Fehler von vielen modernen Wissenschaftsgläubigen. Man schüttet das Kind mit dem Bade aus! Natürlich wird man die Tiefenwirkung von Mythen, Märchen und Symbolen auf den Menschen nur bedingt experimentell überprüfen können. Eine psychoanalytische Traumdeutung wird immer nur hypothetisch sein. Der „Freudianer“ wird ganz anders herangehen als ein „Jungianer“. Alexander Mitscherlich deutete den Ouroboros-Traum des Chemikers August Kekulé als Hinweis auf  einen sexuellen Notstand. Der Ouroboros ist aber ein archetypisches Symbol der Integration und Assimilation des Gegensatzes, des Schattens. Zudem symbolisiert er die ständige Selbsterneuerung und das Eine, die Ursprungseinheit, das Enthaltensein im "Großen Runden". Hinzu kommt die symbolische und archetypische Bedeutung der Schlange, die einerseits als Baum-Numen mit dem Chthonischen und Erdhaft-Mütterlichen verbunden ist, als erhöhte Schlange darüber hinaus auch ein Heilssymbol darstellt. Für den Wissenschaftler Kekulé war nur der Aspekt des „hilfreichen Tieres“ von Bedeutung, das ihm aus dem Unbewussten die bahnbrechende Erkenntnis von der ringförmigen Struktur des Benzols zukommen ließ. Nicht schlecht, wird man sagen, aber muss man sich darauf beschränken? Hat das Unbewusste nicht noch wichtigere Hinweise parat, die es zu ergründen gilt? Dafür „im Trüben zu fischen“ lohnt sich, denn es befinden sich dort Schätze, die zu heben sind. Nicht umsonst findet der Drachenkampf meist statt, um einen wertvollen Schatz zu erobern, symbolisch die Individuation, oder um die Prinzessin zu befreien, symbolisch die Anima, also das personifizierte Unbewusste. Interessanterweise wendet sich die moderne psychologische Forschung wieder dem Unbewussten zu, was man sehr schön in dem Buch „Vor dem Denken“ des Sozialpsychologen John Bargh (2017) erkennen kann. Die Einstellung eines John B. Watson und noch stärker eines Burrhus  F. Skinner, wonach das Unbewusste gar nicht existiere, weil man es nicht sehen kann, erinnere ihn an das kleine Kind, das Verstecken spiele, indem es sich die Augen zuhält. Ein Traum hatte ihm die Augen geöffnet hinsichtlich der Bedeutung des Unbewussten und dessen Ursprünglichkeit. Dazu später mehr!

Als Praktiker sollte man keine Angst davor haben, wissenschaftliche „Standards“ zu relativieren und sich darüber hinweg zu setzen. Auch einseitige methodische Engstirnigkeiten sollten überwunden werden, im Interesse des leidenden Menschen. Das bedeutet auch, eigene Vorstellungen und Denkgewohnheiten ständig selbstkritisch zu hinterfragen und zu überdenken. Auch angeblich „gesicherte“ wissenschaftliche Erkenntnisse haben sich schon allzu oft als überholt herausgestellt, und so ist ein gewisses Misstrauen diesbezüglich sehr zu empfehlen.

Ausgehend von den philosophischen Gedanken werden in der Folge auch wichtige Themenbereiche angerissen, als Erstes der Eros. Liebe und Sexualität gehören zu den wirkmächtigsten Motiven und sind die Ursache von höchstem Glück, aber auch von schrecklichstem Leid.  Der Narzissmus und dessen Störungen beschäftigten mich in den letzten Jahren besonders, aufgrund der schicksalhaften Begegnung mit Menschen, die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung beziehungsunfähig und hasserfüllt gemacht hatte, und deren narzisstische Wut zerstörerische Auswirkungen hatte. Die Schuldfähigkeit und der freie Wille berühren Fragen, die von äußerster Komplexität sind und absolut keine einfachen Antworten dulden. Da halte ich es gerne mit Kant: „Der Mensch ist frei und dagegen: es gibt keine Freiheit, alles ist naturgesetzliche Notwendigkeit.“ Und mit Benjamin Libet (1999), der den Romancier Isaac Bashevis Singer zitiert: “Das größte Geschenk der Menschheit ist die freie Wahl.“ Und zuletzt geht es um die Kastrationsangst sowie die Angst vor Zerstückelung. Es werden unterschiedliche theoretische Annahmen vorgestellt, und im letzten Kapitel geht es auch um Träume und das Unbewusste, um die persönliche Weiterentwicklung und die Individuation.

 

 

 

 

Philosophische Gedanken und die Psychoanalyse

 

Bei der Lektüre eines Buches über die großen Fragen der Philosophie von Rudolf Eucken aus dem Jahre 1919 kann man deutlich erkennen, wie zeitlos und "zeitüberlegen" die ideologiefreie Geisteswissenschaft ist, denn Ähnliches hätte genauso auch ein zeitgenössischer Denker schreiben können. Aufhorchen ließen insbesondere die Ausführungen über den Einfluss des christlichen Denkens auf unser Leben und unsere Kultur. "Es erscheint eine Spaltung, deren Überwindung zur Aufgabe aller Aufgaben wird. Dass so dem Menschen sein eigenes Wesen zum Hauptproblem wird, das muss sein Leben wesentlich zurückverlegen und es vor allem mit sich selbst befassen lassen." Gemeint ist die Spaltung zwischen der Innerlichkeit und der Sinnlichkeit, da letztere ganz in den Dienst und unter das Primat der ersteren gestellt wird, aber daraus erwachsend vor allem der Gegensatz zwischen Gutem und Bösem. "Die Wurzel des Übels ist nicht ein Mangel an geistigem Vermögen, sondern die moralische Schuld" und weiter: "Ein Leben aus freier Tat hebt sich über allen bloßen Naturprozess hinaus, es beginnt ein Kampf zwischen Freiheit und Schicksal." Man könnte auch „Innerlichkeit“ durch die introversive Denkfunktion sowie eine gewisse Vertiefung, Vergeistigung (Spiritualität), entsprechend dem Logos-Prinzip oder (neuplatonisch) dem „Nous“, und „Sinnlichkeit“ durch das extravertierte Fühlen und Empfinden („sensation seeking“) sowie eine Beigabe von „Voluptas“ oder dem Eros-Prinzip (dem „Sensus“) ersetzen. Diese Überlegungen können jedenfalls sehr gut in Verbindung gebracht werden mit psychoanalytischen Theorien, insbesondere im Hinblick auf innerseelische Spaltungen und Spannungen, die ja meist zu tun haben mit Konflikten zwischen Triebanforderungen einerseits  und hemmenden, regulierenden Instanzen andererseits. Darüber hinaus geht es um die unterschiedlichen psychologischen Typen: die einen sind mehr auf das Subjekt bezogen, auf das eigene Ich (Introversion), womit wir bei der „Innerlichkeit“ wären, die andern mehr auf das Objekt und die Beziehungen mit der Außenwelt (Extraversion), entsprechend der „Sinnlichkeit“. Nietzsche schrieb vom Gegensatz zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen. Das christliche Weltbild hat in mancher Hinsicht wohl eine prägende Rolle gespielt. Unbewusste innerpsychische Konflikte hat es allerdings schon immer gegeben, wie auch die dabei beteiligten Grundthemen: Autonomie, Dominanz und Unterwerfung, Nähe und Distanz, Aggressivität, Sexualität. Gemäß dem Verständnis der Analytischen Tiefenpsychologie im Sinne von C. G. Jung läge die Spaltung zwischen dem Instinkt- und Naturhaften, Unbewussten und dem höheren Geistigen, Bewussten, wobei letzteres in unserer Zeit überbewertet wird, wie auch das konkrete, empirische Denken. In „Psychologische Typen“ (1995) schreibt Jung etwa von der „christlichen Zerreißung des Menschen in ein wertvolles und ein verworfenes Stück“. So wurde auch das höhere Männliche, Solare, das Logos-Prinzip, hinsichtlich des unteren Weiblichen, Lunaren, des Eros-Prinzips, als überlegen angesehen, und gleichzeitig wurden das Bewusstsein und die Ratio im Verhältnis zum Unbewussten und zur Intuition überhöht. Der Konkretismus mit seiner Überbewertung des empirisch Beobachtbaren und Messbaren habe zu einer „Spezialistenmythologie“ geführt, welche den Tod der Universalität bedeute. An anderer Stelle weist er darauf hin, dass schon der hellenistische Synkretismus den Anfang gesetzt hatte mit der Unterscheidung zwischen dem Stofflichen, der Hyle, der Seele (Psyche) und dem Geist (Pneuma), verbunden mit einer Akzentuierung des Seelisch-Geistigen, wodurch dieses von der naturhaften Körperlichkeit abgetrennt wurde. Positiv daran war die Entwicklung einer bewussten Verantwortlichkeit und letztlich des wissenschaftlichen Denkens und Forschens, wobei sich im aufkommenden Materialismus wiederum das Hauptaugenmerk auf die Hyle verlagerte. Das Zurückdrängen und die Entwertung des Unbewussten sieht Jung als eine Entziehung von Libido (psychischer Energie), die allerdings nötig war, um das Bewusstsein zu stärken gegenüber einer ursprünglichen Vormachtstellung des Unbewussten. Ähnlich könnte man das Patriarchat oder besser das patriarchale Bewusstsein als nötig im Sinne einer Überwindung der Vormachtstellung des Weiblichen ansehen. Ziel wäre ein neues Gleichgewicht im Sinne der Gegensatzvereinigung und einer besseren Integration des Unbewussten und damit der dunklen Seite, des Schattens, ins Bewusstsein, wie es schon in der Alchemie und der hermetischen Philosophie (Conjunctio) thematisiert wurde. Analog hierzu wäre nicht ein neues Matriarchat oder eine erneute Vorherrschaft des matriarchalen Bewusstseins anzustreben, sondern ein Ausbalancieren der Machtverhältnisse. In Anlehnung an fernöstliches Denken kann man in diesem Zusammenhang an die Polarität von Yin und Yang denken: das weiblich, dunkle Erdhafte im Gegensatz zum männlich, lichten, höheren Geistigen, wobei immer ein Ausgleich, eine Balance angestrebt wird, entgegen jeder Einseitigkeit, was wesentlicher Bestandteil des Individuationsprozesses ist und symbolisch durch die „Chymische Hochzeit“, etwa zwischen Sonne und Mond dargestellt wird. Es geht natürlich immer auch um den alten Leib-Seele-Dualismus, die bereits erwähnte Spaltung zwischen Geist und Stoff oder Natur, die allzu oft in einen dissoziativen und leidvollen seelischen Zustand mündete und zu dem Bemühen führte, eine Einheit zum „ganzen Menschen“ zu erlangen. Hinzu komme die „metaphysische Spaltung“ zwischen der Gotteswelt und Satan, zwischen dem „summum bonum“ und dem absolut Bösen. Es gilt auch da, eine Vereinigung der Gegensätze anzustreben und Gott als „complexio oppositorum“ zu sehen. Dabei geht es wohlgemerkt um die archetypische Vorstellung von Gott, und nicht um den Glaubensinhalt. Eine weitere Polarität wäre die bereits erwähnte zwischen Introversion und Extraversion, wobei erstere primär auf das Subjekt bezogen ist und letztere auf das Objekt. Der alte Universalienstreit zwischen dem Universalienrealismus sowie platonischem Idealismus einerseits und dem kynischen und megarischen Nominalismus andererseits spiegelt in philosophischer Hinsicht diese Gegensätzlichkeit. C. G. Jung schreibt in „Psychologische Typen“ (1995): „Wirklichkeit ist nur das, was in einer menschlichen Seele wirkt“. „Die“ Wirklichkeit als einzig gültige gibt es demnach gar nicht, und das „esse in anima“ wäre die vermittelnde Formel! „Die Psyche erschafft täglich die Wirklichkeit“, und es sind die Fantasie, die Imagination, ebenso Gedanke wie Gefühl, die zwischen Innen- und Außenwelt die Brücke schlagen. Es ist das Symbol mit seinem Doppelcharakter, sowohl real als irreal, das zwischen den Gegensätzen vermittelt, da es im einen auch noch das andere mit einschließt. Die Ratio und das Bewusstsein sind dazu nicht in der Lage, da sie nur das Reale und das eindeutig Bestimmte erfassen können, gemäß dem Grundsatz der Logik „tertium non datur“.

Und so bietet uns die Psychoanalyse ein zeitüberlegenes Verständnis seelischer Zusammenhänge, ganz unabhängig von Weiterentwicklungen und Vertiefungen. Einen interessanten biologisch-evolutionären Gesichtspunkt hierzu findet man bei dem Ameisen-Forscher Edward O. Wilson in seinem Buch "Die soziale Eroberung der Erde - Eine biologische Geschichte des Menschen". Grundlegend im Menschen sieht er den Konflikt zwischen eigennützigen, egoistischen Motiven und dem Drang zur Aufopferung für die Gemeinschaft, wobei diese Zwiespältigkeit auch die Grundlage für Kreativität, Erfindungsreichtum und jedwedes Streben sein soll. Passend zu dem Thema und empfehlenswert ist das Buch von R. D. Precht "Die Kunst, kein Egoist zu sein."  

Peter Sloterdijk („Philosophische Temperamente“ 2010) benennt als Grundkonflikt der neuzeitlichen Welt „den Widerspruch zwischen dem operativen und dem meditativen Geist“, der insbesondere von Blaise Pascal mit fast archaischer Heftigkeit verkörpert worden sei. Also Weltverbesserung gegen Besinnung. Die Menschen scheinen aber doch langsam zu erkennen, dass nur ein Zusammenspiel beider Tendenzen sinnvoll ist und dass ein reines Streben nach Beherrschung und technischem wie ökonomischem Fortschritt den tieferen menschlichen Bestrebungen nicht gerecht werden kann. Wenn im philosophischen Denken Absurdität und Verzweiflung überwiegen, dann ist Ausweglosigkeit die logische Folge, denn Sinnlosigkeit verhindert die Fülle des Lebens. Und so kann man Sloterdijk zustimmen, wenn er meint, dass es für die zukünftige Geschichte der Menschheit gilt, ein nachleibnizsches Prinzip des Optimismus oder zumindest des Nicht-Pessimismus zu regenerieren. Er ist, wie viele andere neuzeitliche Denker, skeptisch bis ablehnend der Psychoanalyse gegenüber eingestellt. Es geht dabei wohl vor allem um einen „dogmatischen“ Ansatz, der mit dem Anspruch einer Weltanschauung und nicht nur einer wissenschaftlichen Behandlungsmethode daherkommt. „Die“ Psychoanalyse gibt es ohnehin gar nicht mehr, angesichts der verschiedenen Neuausrichtungen und Weiterentwicklungen. Man kann allerdings nicht leugnen, dass innerhalb bestimmter Schulen die Schriften des jeweiligen „Meisters“ wie eine Bibel behandelt werden, die nur noch der richtigen Auslegung bedürfen. Eine Tendenz zum „Dogmatischen“ in der psychoanalytischen Bewegung geht allerdings auf Freud selbst zurück, der in einem Gespräch mit Jung die Sexualtheorie als Dogma und Bollwerk gegen die „schwarze Schlammflut“ des Okkultismus festlegen wollte. Jung hatte die Vermutung, dass Freud vom Numen der Sexualität ergriffen war. Für ihn sei sie eine Art von „res religiosa observanda“ gewesen, und die sexuelle Libido sei zum „deus absconditus“ geworden, habe „dämonische“, „göttliche“ Attribute erhalten.    

Bei Rudolf Eucken findet man wegweisende Ausführungen zum Thema Glück, die ausgehend von Platon und Aristoteles bis zur Neuzeit die Bedeutung und die Berechtigung des Strebens nach Glück unterstreichen. Es geht dabei nicht um „Eudaimonismus“ oder „Hedonismus“, denn Glück kann ganz unterschiedliche Qualitäten haben, was bereits im Märchen von „Hans im Glück“ sehr schön zum Ausdruck kommt. Arete belehrt Herakles wie folgt:  „Von dem Guten und wahrhaft Schönen geben die Götter den Menschen nichts ohne Mühe und Fleiß.“ Auch in der psychologischen Forschung hat man sich mit diesem Thema befasst, und Abraham Maslow hat in seiner „Bedürfnispyramide“ gezeigt, dass von der Befriedigung der sog. Grundbedürfnisse bis zur höchsten Stufe, der Selbstverwirklichung, mit ihren Höhepunkten im beruflichen, wissenschaftlichen oder kreativ-künstlerischen Schaffen, unterschiedliche Ausprägungen von Zufriedenheit oder Glück auftreten können. Von der Selbstverwirklichung war bereits die Rede  bei Aristoteles, der schon ähnliche Gedanken entwickelt hatte, nichts ist so neu wie man denken mag! Man kann hier ebenfalls an den "Flow"-Zustand von Mihály Csíkszentmihályi denken oder an die "schöpferische Leidenschaft" des Kurt Hahn, dem Begründer der "Erlebnispädagogik", das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit. Zuletzt war es die "Positive Psychologie", vor allem verbunden mit dem Namen Martin Seligman, dem auch der Begriff der "erlernten Hilflosigkeit" zu verdanken ist, die sich mit den Umständen von Glück und Zufriedenheit befasste. Es wurden zahlreiche Komponenten oder "Stärken", wie Liebe, Dankbarkeit, Neugier, Optimismus, Humor und Tatendrang sowie "Tugenden", wie Weisheit, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Transzendenz aufgestellt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der ressourcenorientierten oder der humanistischen Psychologie. 

Es geht aber nicht nur um Glück, um Sehnsüchte, Träume, es geht auch um die Sinnfrage, um ein erfülltes Leben. Welche Umstände sind nötig , um ein solches zu führen? Hört man auf Nietzsche, so ist unser Dasein nur gerechtfertigt als ästhetisches und bejahenswertes Phänomen. Gemäß seiner Idee von der "ewigen Wiederkehr" ist jeder Augenblick unseres Lebens in diesem Sinne ewig, und wir sollen stets bedenken, ob unser Handeln und unsere Entscheidungen jeweils im Sinne der Freiheit und des "gelebten Lebens" erfolgen. Das "amor fati" bedeutet, sein Schicksal anzunehmen, in freiem Wollen und unabhängig davon, ob wir letztlich wirklich frei sind. Geschick und freier Wille in paradoxem Wechselspiel! Leider verlor Nietzsche selbst mit der Zeit den Boden unter den Füßen und  letztlich sogar den Verstand. Den unkontrollierten Einbruch des Unbewussten konnte er allein denkerisch nicht bewältigen.

Mit Wilhelm Schmid könnte man den „existenziellen Imperativ“ befolgen: „Gestalte Dein Leben so, dass es bejahenswert ist!“ Und zwar in erster Linie für den Einzelnen selbst, wenn möglich auch für die andern, und nicht nur hinsichtlich der „positiven“ Dinge, sondern insgesamt, mit allem, was es an „Schönem“ aber auch an Hässlichem, Peinlichem, Unangenehmem und Schmerzlichem enthält. Auch das Scheitern kann dazu gehören! Entscheidend ist, ob das Leben als „Gesamtkunstwerk“ bejahenswert erscheint. Das "schöne Leben" ist nicht ein leichtes oder bequemes Leben, sondern eher ein zumindest teilweise beschwerliches, was aber Momente des höchsten Glückes, etwa in der Liebe, in der Freundschaft oder im Schaffen nicht ausschließt. Ein bejahenswertes Leben kann auch gegen Widerstände von außen, gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen geführt werden und erhält so gleichzeitig eine politische Dimension, da das Hinwirken auf die Veränderung von Missständen daraus resultiert, was im Übrigen eine Begleiterscheinung von psychotherapeutischer Tätigkeit sein kann. Als Psychotherapeut ist oder wird man auch immer ein wenig Philosoph, da das Eintauchen in die Lebenswelt der Menschen und in ihr Seelenleben notwendigerweise dazu führt, dass man sich Gedanken macht über die großen Fragen des Daseins. 

Diese Dinge wurden natürlich schon lange zuvor, vor allem im philosophischen Denken, beschrieben, auch von Platon. Ihm war es vorbehalten, das Bild des leidenden Gerechten zu entwerfen, der verkannt und bis zum Tode verfolgt wird (wie sein Lehrer Sokrates), der aber durch alle Arten von Anfechtung an innerem Glück gewinnt, und hier sind wir natürlich sehr weit vom landläufigen Verständnis von Glück entfernt, da es nicht mehr um die Befriedigung irgendwelcher Bedürfnisse geht, um das Streben nach materiellen Gütern oder um Anerkennung von außen und Macht, sondern um das Ruhen in sich selbst, um den inneren Frieden und eine geistige Freiheit, eine heitere Gelassenheit, die einem nicht genommen werden können. "Es gibt kein volles Glück ohne Seelengröße.“ Weiterentwickelt wurde das Ganze durch Plotin, der als Begründer der Mystik gelten kann. Er meinte, in der Erfahrung der Vereinigung mit dem Einen und mit dem All das höchste Glück zu finden. In ekstatischer Verzückung und unbeschreiblicher Seligkeit sollte man alles übrige vergessen können. In die Niederungen des Alltags und die nicht immer einfache Lebensrealität sollte man dann gar nicht mehr zurückkehren! Was das Leben so an Prüfungen und Leiden zu bieten hat, dem sollte geistige Kraft dennoch gewachsen sein. Schicksalsschläge, sowie körperliche und seelische Erkrankungen, können wohl das Lebensglück und die Lebensfreude deutlich beeinträchtigen oder gar zerstören, aber auch sie können einen edlen Menschen nicht entwerten und zerbrechen, denn durch alles Unglück leuchtet bei ihm die Schönheit der Gesinnung hindurch. Das Erlangen von Glück wird von den Denkern meist im Zusammenhang mit dem Schaffen gesehen, mit dem gestaltenden In-der-Welt-Sein, und es ist unmittelbar mit der Sinnfrage verbunden, womit wir bei Sisyphos und seiner scheinbar sinnfreien Tätigkeit wären, und bei seinem befreienden Akt des Denkens und Philosophierens, wobei symbolisch hier auch das ewig vergebliche Bemühen, das Los der Sterblichkeit von sich abzuwälzen, dargestellt wird. Schelling wies darauf hin, dass der Mensch nur durch das Schaffen dem „horror vacui“, dem Grauen vor dem Nichts, entkommen könne: „Im Produzieren ist der Mensch nicht mit sich selbst, sondern mit etwas außer sich beschäftigt...“ Dies könnte als Loblied auf den Kapitalismus missverstanden werden, aber auch hier gilt: Qualität vor Quantität! Rutger Bregman hat in seinem richtungsweisenden Buch „Utopien für Realisten“ (2017) gezeigt, dass mehr sinnvoll genutzte Freizeit zum guten Leben gehört. Der „Minimalismus“, von Wolfgang Schmidbauer schon 1992 in seinem Buch „Weniger ist manchmal mehr. Zur Psychologie des Konsumverzichts“ angedacht, weist uns den Weg: weg vom Wachstumsdenken, hin zur Bescheidenheit, auch zur Schonung der Umwelt und der natürlichen Ressourcen! In einer schweren Depression scheint all dies wenig zu helfen, sind doch die Freud- und Hoffnungslosigkeit sowie die Gefühle der Resignation allzu groß! Dennoch liegt hier vermutlich der Schlüssel für die Überwindung und das Meistern eines solchen Zustandes, der sich dann auch wiederum zur Quelle von neuer Energie und Lebensfreude zu entpuppen vermag und zur Bestätigung der Annahme, dass jede Krise ihr Gutes haben kann, soweit man nur in der Lage ist, sie derart zu nutzen! Dass Grenzerfahrungen und deren Überwindung dazu führen können, dass der Mensch erst zu sich selbst findet und über sich hinaus wächst, hat Karl Jaspers eindrucksvoll beschrieben. Menschen, die unmittelbar in ihrer Existenz bedroht sind, sei es durch Krieg und Verfolgung, sei es durch Krankheit und Hungersnot, wird man solche Gedanken nur mit Mühe nahe zu bringen vermögen. Angesichts des größten Elends über die Suche nach Glück zu philosophieren, kann wie der reine Hohn erscheinen, insbesondere wenn es dem Denker selbst vergleichsweise eher gut ergeht! Es gilt dabei auch, ein Missverständnis zu vermeiden: nicht ein falsch verstandenes „positives Denken“ ist angesagt und eine Art „Schönrederei“, sondern die Kunst der Bewältigung von schweren Schicksalsschlägen, des Erlebens und Aushaltens von unaufhebbarer Gegensätzlichkeit. Sicher hat das ebenfalls mit Abwehrstrategien zu tun, aber die sind ja nichts Schlechtes, im Gegenteil, sie sind überlebenswichtig! Schopenhauer sah das Leiden der Welt und die Grausamkeit der Natur, und in seiner düsteren Betrachtungsweise schrieb er von der Blindheit des weltschaffenden Willens. Sicher kann man diese Sicht nicht völlig beiseite schieben und sollte sich mit ihr auseinander setzen. Auch bei den Denkern wird die grundlegende Gegensätzlichkeit des Seins erkennbar: die hellen Seiten ebenso wie die dunkleren! Im Menschen gibt es Sinn und Unsinn, wie auch in der Welt. Ob das Sinnvolle die Oberhand gewinnen wird, muss sich zeigen.

Im Zusammenhang mit der Suche nach Glück kann man an den Utilitarismus von Jeremy Bentham denken, der in moralphilosophischer Sicht auf dem Kosten-Nutzen-Prinzip beruht, als einzigem Kriterium für moralische Entscheidungen. Es geht dabei um die Maximierung von Lust und Wohlbefinden sowie die Vermeidung von Unlust und Schmerz. Der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel („Gerechtigkeit“ 2013) zeigt, dass diese Denkweise die aktuellen Moralvorstellungen stark beeinflusst, etwa wenn man Foltermethoden rechtfertigt, um Terroranschläge zu vermeiden, dass dieser Ansatz aber zu kurz greift und im Extrem den Wert eines Menschen monetär bestimmt, was natürlich zum kapitalistischen Denken passt und die Würde des Menschen mit  Füßen tritt. In Schweden wollte etwa die amerikanische Tabakindustrie der Regierung aufzeigen, dass keine Erhöhung der Tabaksteuer vonnöten sei, da das Rauchen nachweislich dem Staat finanziell nutze, indem das frühe Ableben der Raucher bei den Renten, der Gesundheitsversorgung und der Altenpflege hohe Einsparungen bringe. Zu Recht löste diese Argumentation heftige Proteste aus und wurde mit einer Entschuldigung zurückgenommen. Der Philosoph und Ökonom John Stuart Mill brachte eine Weiterentwicklung der Theorie und öffnete sie in Richtung Menschenwürde und zusätzlicher ethischer Prinzipien die Persönlichkeit betreffend, jenseits der Nützlichkeit. Unter anderem war er der Meinung, dass Konformität der Feind des guten Lebens sei! Die vollständige und freie Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten sei das höchste Ziel. Immanuel Kant wiederum hat herausgestellt, dass es einen Unterschied gibt zwischen Personen, denen als vernunftbegabte Wesen eine besondere Würde und Respekt zukommen, und Sachen, die man benutzen kann, was ganz allgemein gegen eine Verdinglichung und Vermarktung von Menschen spricht. Vernunft und Freiheit sind die Grundlage von universell gültigen moralischen Prinzipien, was nicht heißen will, dass die Menschen immer vernünftig und selbstbestimmt agieren! Aber durch ihre Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln, erhalten sie ihre Würde. Eine Gruppe von Philosophen, zu denen auch Sandel gehört, berufen sich auf Aristoteles und vertreten eine moralphilosophische Richtung (Kommunitarismus), die sich verstärkt auf „narrative“ Aspekte des Menschen gründet und auf das „gute Leben“, auch wenn letzteres in der pluralistischen Gesellschaft in unterschiedlicher Weise definiert und kontrovers diskutiert wird. Es geht um Bindungen, um Loyalität und Solidarität sowie teleologische Aspekte. Dies bedeutet u. a. eine Aufgabe der Neutralität des Staates in moralischen Fragen. Überdenkenswert ist die These von Sandel, dass ein Ausblenden von konkurrierenden moralischen und religiösen Vorstellungen das Aufleben von Fundamentalismen begünstigen könnte. Barack Obama habe die vorhandene Sehnsucht nach Moral und Spiritualität erkannt und ihr politischen Ausdruck verliehen. Andererseits war auch er ein Anhänger neoliberaler Vorstellungen und liebäugelte mit behavioristischen und technokratischen Ansätzen. Der Einsatz von Kampfrobotern (Drohnen) spricht nicht unbedingt für hohe moralische Standards. Immerhin war er zu einer stärkeren Regulierung der Märkte bereit, nachdem die Finanzkrise gezeigt hatte, dass die „algorithmische Selbstregulierung“ zumindest in diesem Bereich nur bedingt funktioniert. Die Weiterentwicklung und Anpassung von Rechtsnormen beruht ja immer auf einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Neuausrichtung, mit entsprechenden Argumentationen, die eine Veränderung rechtfertigen. Es geht darum, eine öffentliche Kultur zu schaffen, die mit den unvermeidlich auftretenden Meinungsverschiedenheiten in gegenseitigem Respekt umzugehen weiß. Man wird nicht umhin kommen, sich in der Gerechtigkeitsfrage auch mit Werten, Tugenden und Zielvorstellungen zu befassen, wobei auch zunächst utopisch erscheinende Szenarien wie etwa jene von Rutger Bregman vorgestellte zu berücksichtigen wären.             

Von Bedeutung erscheint mir, dass die Philosophie und die Denker auch in der heutigen Zeit wieder stärker ihre Stimme erheben und zu den großen aktuellen Problemen in der Gesellschaft, in der Politik, in der Erziehung, in der Wirtschaft, im globalen Zusammenleben und in der Umwelt Stellung beziehen. 

Ein bahnbrechender Denker in dieser Hinsicht ist Michel Foucault. Seine Schriften könnten zu der Vermutung Anlass geben, er sei gar kein Philosoph, sondern Sozialhistoriker oder gar Sexualwissenschaftler, da er sich bewusst mit Vorgängen und Institutionen in der Vergangenheit befasste, etwa mit psychiatrischen Anstalten, Krankenhäusern und Gefängnissen. Sein Anliegen war es, sich mit Dingen auseinander zu setzen, die von den Menschen problematisiert wurden, und diese in einen größeren Zusammenhang zu stellen, etwa in der Diskurstheorie.

Philosophie ist für mich vor allem die Wissenschaft der Lebenskunst, natürlich auch der Weisheit und der Liebe zu Weisheit, Wahrheit und Erkenntnis, entsprechend dem Wortsinn, aber sie soll auch über Werte, über das Gute und Schöne reden, also moralische und ästhetische Fragen angehen, ja sie soll überhaupt den Menschen zeigen, dass es wichtig ist, Fragen zu stellen und alles immer wieder in Frage zu stellen. Dabei sollte sie keine Angst haben vor einer gewissen Sprengkraft und Subversivität. Wahrheiten sind nicht immer bequem und beschwichtigend, schon gar nicht immer dem „Zeitgeist“ entsprechend. Für die Psychoanalyse und generell die Psychotherapie müsste gelten, dass man sich nicht nur für den Körper und die Seele (Psyche) interessiert, sondern auch für den Geist, das Denken und die Transzendenz (nicht im religiösen Sinn gemeint!). Eine psychotherapeutische Schule hat dies sogar in den Mittelpunkt gestellt, und zwar die "Daseinsanalyse", wobei eine Reflexion über das "Leiden am eigenen Sein" und die Grundbedingungen der menschlichen Existenz stattfinden soll. Die Erkenntnisse und das Verstehen der Bilder aus dem Unbewussten in der Analyse müssen dann allerdings auch unbedingt als ethische Verpflichtung gesehen werden und als Anstoß zur persönlichen Weiterentwicklung.

Montaigne und vor ihm Sokrates und Platon meinten, Philosophie bedeute Sterben lernen. Mit Hans-Georg Gadamer könnte man ergänzen; "Sterben lernen heißt lernen, das anzunehmen, was das Leben lebenswert macht." In Anlehnung an Epikur („Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.“) meinte Karl Marx, der Tod sei nicht für den ein Unglück, der sterbe, sondern für den der überlebe! Der Tod kann seinen Schrecken verlieren, wenn er im Sinne einer natürlichen und unabdingbaren Begrenztheit unserer Existenz angenommen wird, als eine "Conditio sine qua non", ohne die es das Leben nicht gäbe. Für das Geschenk des Lebens müssen wir mit dem Tode bezahlen. Das ist die Spielregel, schon bei der Geburt so festgelegt. Wenn wir gelernt haben, zu teilen und die Dinge des Lebens nur als Leihgaben anzusehen, dann sind wir auch bereit, unser Leben eines Tages wieder herzugeben und loszulassen. C. G. Jung meinte, dass unser Leben eine Vorbereitung auf den Tod sei und dass letzterer als Ziel und Erfüllung zu den normalen Aufgaben des Lebens gehöre: "Nicht-leben-Wollen ist gleichbedeutend mit Nicht-sterben-Wollen." Der ausgeprägte Totenkult vieler antiker Völker, etwa der Ägypter, bestätigt diese These, wobei immer auch der zuversichtliche Glaube an ein Weiterleben nach dem Tode sinnstiftend vorhanden war. Die Aufklärung hat diese Hoffnung nachhaltig erschüttert, aber man kann zumindest nicht ganz ausschließen, dass sich das menschliche Streben nach Transzendenz und Vergeistigung nicht doch auf irgendeine Art von Unsterblichkeit bezieht. Der Psychotherapeut und Autor Irwin D. Yalom hat in seinem Buch „In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet.“ (2009) einige hilfreiche Überlegungen angestellt zu diesem Thema. Man könne den Tod vergleichen mit dem unbewussten Zustand vor der Geburt, in den wir am Ende des Lebens erneut eintauchen. Probleme mit dem Tod wird man vor allem dann haben, wenn das eigene Leben als nicht erfüllt angesehen wird und man keine "Wellen" angestoßen hat, die andere Menschen erreichen und unseren Tod überdauern. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um die persönliche Identität des Einzelnen, sondern um wertvolle und sinnstiftende Anregungen, die sich wellenförmig ausbreiten und so ihre Wirkung entfalten. Die Bedeutung dieser Wellen, sogar in "kleinsten" Dingen, wird auch vom Sozialpsychologen John Bargh („Vor dem Denken“ 2017) bestätigt, und zwar aufgrund der neuesten Befunde der Forschung! Der Germanist und Psychotherapeut Wolfram Schmitt („Leib, Wandlung und Transzendenz in der Lyrik Rainer Maria Rilkes“, 2015) meint, dass der Tod im Leben immer schon enthalten sei und uns begleite. Ziel des Lebens und der Dichtung sei es, mittels Wandlung und Metamorphose bei uns selbst anzukommen, in unserem Inneren und im „Weltinnenraum“. Daraus entstehend kann man vielleicht jene Haltung des taoistischen „Wu wei“ erreichen: das „Tun durch Nichts-Tun“ oder besser "Tun und Nichts-Tun" (vielleicht auch „Ergreifen, Begreifen durch Nicht-Ergreifen, Nicht-Begreifen“) oder das „Sich-Lassen“ des Meister Eckhart. Dann wird man annehmen können, was von innen oder von außen auf uns zukommt, auch wenn es irrational und unbegreiflich erscheint, „ein Gefühl von Versöhnung mit dem Geschehenden überhaupt“, wie C. G. Jung es ausdrückt. Diese Fähigkeit, sich selbst und die Welt annehmen zu können, wird allerdings immer auch davon abhängen, inwieweit man das Angenommensein durch die Mutter (die Urbeziehung) in ganz früher Zeit am eigenen Leib erfahren hat.

Philosophie  sollte uns zu intellektueller Bescheidenheit anleiten, zu dem Bewusstsein, dass wir sehr vieles nicht wissen oder nur rudimentäres Wissen besitzen, ganz im Sinne von Sokrates, der seinen Mitbürgern immer wieder zeigte, wie wenig wir wissen angesichts der Geheimnisse der Welt und des Universums. Heute könnte man hinzufügen "der Universen", da es wahrscheinlich nicht nur eines gibt und wir eine erneute kopernikanische Wende erleben: unser Universum ist nur eines von vielen!

 

 

 

Eros

 

Masken! Masken! Daß man Eros blende.

Wer erträgt sein strahlendes Gesicht,

wenn er wie die Sommersonnenwende

frühlingliches Vorspiel unterbricht.

 

Wie es unversehens im Geplauder

anders wird und ernsthaft... Etwas  schrie...

Und er wirft den namenlosen Schauder

wie ein Tempelinnres über sie.

 

O verloren, plötzlich, o verloren!

Göttliche umarmen schnell.

Leben wand sich, Schicksal ward geboren.

Und im Innern weint ein Quell

(R. M. Rilke)

 

"Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang." Etwas Wahnhaftes hat die Liebe schon, aber sie ist gleichzeitig wie ein Zauber, der uns verändert und verklärt. Ohne sie wäre das Leben ziemlich grau und langweilig, mit ihr ist es aufregend und voller Elan, man will sie nicht missen. Und doch ist sie auch ein Quell von Seelenschmerz, möglicherweise sogar lebensgefährlich, zerstörerisch. Für die Philosophen war sie immer schon ein Thema, nicht nur für die Dichter und Künstler, auch wenn es zunächst die Liebe zur Weisheit ist, die sie behandeln oder die "platonische Liebe". Epikur im Garten der Lüste wendete sich an einen Schüler, der ihm berichtet hatte, seine körperliche Erregung dränge ihn häufig zu sexueller Befriedigung: "In Ordnung. Wenn du dabei nie die Gesetze brichst, nicht die Gebote guter Sitten verletzt, keinen deiner Mitmenschen kränkst, auch deinen Körper nicht zugrunde richtest und das zum Leben Notwendige nicht verschleuderst, dann gib dich deiner Neigung so hin, wie du willst. Allerdings ist es unvermeidlich, sich dabei in mindestens einen dieser Tatbestände zu verstricken. Die geschlechtliche Liebe hat nämlich noch nie etwas genutzt, man muss sich schon freuen, wenn sie nicht schadet". (Gnom. Vat. Ep. 51)  Er und andere Weise waren demnach zumindest der körperlichen Liebe gegenüber recht vorsichtig und besorgt, was manche dazu führte, eine sublimierte Form der Liebe zu bevorzugen, ähnlich wie der alternde Sokrates den Alkibiades zwar sehr liebte, aber eben auf diese rein geistige Weise, trotz der Avancen des jungen Mannes. Sokrates wollte  ihm den Schatz der Weisheit vermitteln: "Die Weisheit des Meisters ist nunmehr das Objekt der wahrhaften Liebe." Er wird von der Kraft der wahrhaften Liebe getragen, und er weiß das Wahre, das man lieben soll, wahrhaft zu lieben. Gemeint sind damit auch das Schöne, die Ästhetik, sowie die Kunst, deren Ursprung der Eros sei. Alkibiades berichtete später in einem leicht angetrunkenen Zustand, er habe versucht, den Meister zu verführen, indem er in dessen Bett schlüpfte, aber es sei gewesen wie wenn er mit seinem Vater oder dem älteren Bruder geschlafen habe! Einige Philosophen dachten auch, es sei besser, wenn der Weise unverheiratet bliebe, um nicht abgelenkt zu sein durch Frau und Kinder und um sich ganz der geistigen Tätigkeit widmen zu können. Vielleicht spielte hier das abschreckende Beispiel der Ehe von Sokrates mit Xanthippe eine Rolle, aber Nietzsche meinte ja, dass Sokrates es nicht besser hätte treffen können, da er vor seiner zänkischen Frau immer wieder die Flucht ergriff, um draußen zu philosophieren und die Leute anzusprechen. Möglicherweise liegt hier auch der Ursprung des späteren Zölibats der Priester. Die griechischen Denker waren ja nicht ohne Einfluss auf das Christentum. Ernest Bornemann („Das Patriarchat“ 1984) hingegen meinte, man dürfe nicht die Xanthippe als unmögliche und zänkische Ehefrau hinstellen, sondern eher Sokrates als unmöglichen Ehemann. Ziemlich hässlich soll er ja gewesen sein. Bei Nietzsche findet sich ein Text in "Fröhliche Wissenschaft", der die mögliche Entfremdung zwischen Liebenden in sehr schöner Form darstellt: 

"Wir sind uns Einmal im Leben so nahe gewesen, dass Nichts unsere Freund- und Bruderschaft mehr zu hemmen schien und nur noch ein kleiner Steg zwischen uns war. Indem du ihn eben betreten wolltest, fragte ich dich: "willst du zu mir über den Steg?" – Aber da wolltest du nicht mehr; und als ich nochmals bat, schwiegst du. Seitdem sind Berge und reißende Ströme, und was nur, trennt und fremd macht, zwischen uns geworfen, und wenn wir auch zu einander wollten, wir könnten es nicht mehr! Gedenkst du aber jetzt jenes kleinen Steges, so hast du nicht Worte mehr, – nur noch Schluchzen und Verwunderung."

Es geht hier um Nähe, möglicherweise zu viel Nähe, und um Macht. Schon die Frage, ob der andere über den Steg kommen wolle, führt zu einem Zurückschrecken und danach sogar zur Trennung. Dabei hätte es der Frage gar nicht bedurft! Der andere war ja schon dabei, den Steg zu betreten. Angst vor zu viel Nähe, vor dem Verlust der eigenen Identität und der Autonomie kann demnach zum Scheitern einer Liebesbeziehung führen. Die Distanzregulierung gehört nach C. G. Jung zu den schwierigsten Problemen des Individuationsprozesses. Wir neigen dazu, die Distanz einseitig abzubauen und dadurch den andern in gewisser Weise zu vergewaltigen, wodurch entsprechende Ressentiments entstehen. Jede Beziehung hat ihr Optimum an Distanz, welche es herauszufinden gilt. Das archaische Gefühl der Identität, das wir beim Verliebtsein erleben, kann sich als Irrtum herausstellen, so lange wir nicht unsere Projektionen zurückgezogen haben. Es gibt aber auch die wahre und tiefe Begegnung auf einer höheren Ebene, die eine schicksalhafte Verbindung  zum Selbst in einer anderen Person in seiner Ganzheit darstellt. Etwa wenn wir jemandem erstmals begegnen und meinen, dass wir ihn schon „seit Ewigkeiten kennen“. In dieser Art von Liebe kann der „kosmische Mensch“, der „Anthropos“ wieder auferstehen und gegen die Fragmentierung und Atomisierung der  modernen Gesellschaft wirken, so Marie-Louise von Franz in „Archetypische Dimensionen der Seele“ (2012). Vielleicht ist das jene „zweckfreie“ Liebe, die Erich Fromm meinte, als er diese dem konsumorientierten Streben nach sexueller Lust entgegensetzte. Wenn letzteres im Vordergrund steht, dann könnte man meinen, dass man von der „wahren“ Liebe weit entfernt sei, aber schwingt hier nicht eine lustfeindliche Einstellung mit hinein? Sicher kann man etwa den „pädagogischen Eros“ von der geschlechtlichen Liebe abgrenzen, wobei auch ersterer nicht zweckfrei ist, aber mit der körperlichen Vereinigung ist die Voluptas, der Liebesgenuss, untrennbar verbunden. Geht es allerdings darum, vor allem selbst geliebt zu werden, statt die Fähigkeit zu lieben weiterzuentwickeln, dann wird der andere Mittel zum Zweck und die Liebe obsolet!

Zeitgenössische Philosophen wie beispielsweise Richard David Precht ("Liebe, ein unordentliches Gefühl") oder Wilhelm Schmidt ("Die Liebe neu erfinden") haben das Thema aufgegriffen und zeigen, dass es an Aktualität nichts verloren hat, im Gegenteil. Die Sehnsucht nach der Liebe, womöglich der "absoluten" Liebe ist stärker denn je, was vermutlich auch daran liegt, dass die Menschen in der Liebe eine Art Religionsersatz gefunden haben, der ihrem Leben Sinn und Glücksgefühle verleihen soll, wobei dann natürlich die Enttäuschungen nicht ausbleiben, denn Liebe soll ja keine einseitige Sache bleiben und erfordert das Mitspielen eines anderen, der dann möglicherweise nicht mitspielen will oder ganz anders spielt als erwartet oder erwünscht und der vielleicht erst mitspielt und einem später dann übel mitspielt. Zudem währt ja bekanntlich der Zustand des Verliebtseins nicht ewig, und es stellt sich immer wieder die Frage: was kommt danach? Trennungsgeschichten mit erbittertem "Rosenkrieg" und Schlammschlachten kennt man zur Genüge, auch als Psychotherapeut wird man häufig damit konfrontiert und insbesondere mit den unseligen Folgen für die Kinder der zerstrittenen Eltern. Es ist dann nicht mehr Liebeskunst, sondern Beziehungskunst gefragt, sowie Gesprächskunst, und da sind viele überfordert, oder es fehlt ihnen die Bereitschaft, diese "Arbeit" zu leisten. Gelingt aber die Überwindung der unvermeidlichen Krisen, und man gelangt zu einer neuen Stufe im Lieben, die mehr mit Freundschaft, mit Vertrauen, Verständnis, mit Wärme und Geborgenheit zu tun hat, dann kann eine solche Beziehung lange währen, und sie bekommt dadurch eine ganz neue Qualität und Konsistenz. Die aktuelle Empathieforschung zeigt die Bedeutung des Spiegelns in einer Liebesbeziehung. Vor allem in den späteren Phasen einer Partnerschaft ist es wichtig, ob beide in der Lage sind, einander problemlos und intuitiv zu spiegeln, wobei natürlich auch die zunehmende Vertrautheit eine Rolle spielt.

Oder aber man erkennt, dass man doch nicht für eine dauerhafte Partnerschaft bestimmt ist und trennt sich in Würde, was ebenfalls eine Kunst ist und was man unter Umständen auch nicht ohne Hilfe bewerkstelligen kann. Eine Paartherapie bedeutet nicht unbedingt, um jeden Preis ein Paar zusammenzuhalten. Vielmehr soll sie dazu dienen, die Beziehung zu klären und einen Entwicklungsschritt möglichst gemeinsam zu wagen oder eben auseinander zu gehen, ohne allzu große gegenseitige Verletzungen und Kränkungen. Im günstigsten Falle bleibt man freundschaftlich miteinander verbunden, was vor allem bei vorhandenen Kindern für diese ein Segen ist. 

Schon Ovid befasste sich in „Remedia Amoris“ mit dem möglichen Scheitern der Liebe sowie dem Liebeskummer und ergänzte so seine „Ars amatoria“. Wenn man über den Schmerz hinweg sei, könne man erneut nach letzterer greifen und eine neue Liebe beginnen. Heutzutage wäre der „Kamasutra“ eine näher liegende Alternative.

 

Häufig geht es in der Krise um einen Seitensprung, also um eine meist vorübergehende Dreieckskonstellation, wobei es sich sehr oft um die Reinszenierung des ödipalen Konflikts handelt. Der Paarspezialist Hans Jellouschek hat in seinem Buch "Warum hast Du mir das angetan? Untreue als Chance." gezeigt, dass Fremdgehen eines Partners nicht nur negative Auswirkungen haben muss, obwohl es zunächst als starke Kränkung und als Vertrauensbruch erlebt und erlitten wird und aus moralischer Sicht wohl kaum zu befürworten ist. Es kann aber die Beziehung auch beleben, neue Spannung erzeugen und einen gemeinsamen Entwicklungsschritt ermöglichen. Eine solche Krise macht zudem deutlich, dass in einer Partnerschaft viele Dinge immer wieder neu ausgehandelt werden müssen und dass nie etwas ein für alle Mal festgelegt ist, auch wenn man sich auf bestimmte Regeln geeinigt hat. Natürlich macht sich der Übertreter einer dieser Regeln in gewissem Sinne schuldig, und der andere hat nun die Aufgabe, ihm dies zu vergeben und nicht ein Leben lang immer wieder "aufs Brot zu schmieren". In der Liebe muss es möglich sein, Fehler des anderen zu ertragen und zu verzeihen. Sollte ein Seitensprung aber zur Trennung führen, so war es vielleicht der erforderliche Anlass, um diese Entscheidung treffen zu können.   

 

In der Liebe wird eine Sehnsucht des Menschen nach Transzendenz, nach Erweiterung seines Selbst erkennbar, bis hin zur Entgrenzung und Verschmelzung, also dem Einswerden mit einem andern und der damit verbundenen Gefahr, sich selbst zu verlieren und in die „archaische Identität“ (C. G. Jung) zurückzufallen. Die Liebe kann sich nämlich von der Ergriffenheit zur Besessenheit steigern, bis hin zu einer Art Selbstverlust, was wiederum zum Überdruss beim Partner führen kann. Wahrscheinlich löst die Liebe deswegen auch Gefühle der Angst aus, sie ist ein Ausnahmezustand. In ihr erleben wir das Gefühl der Entfremdung, der nicht aufhebbaren Distanz zwischen den Menschen. Dauerhaftes Einssein und Harmonie sind nicht möglich, und daraus ergibt sich die Erfahrung der Einsamkeit. Die paradiesische Ursprungseinheit ist nicht mehr wiederzugewinnen. Zur Liebe gehört das Wort Leidenschaft, und es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sie im Wortsinn auch "Leiden schafft". 

Vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass man in unserer Zeit dazu neigt, die Liebe zu „entschärfen“. Der Philosoph Byung-Chul Han meint dazu: „Und ist es nicht tatsächlich so, dass man auch in der Liebe heute jede Verletzung meidet? Man will nicht verletzlich sein, man scheut jedes Verletzen und jedes Verletztsein. Für die Liebe braucht man einen hohen Einsatz. Aber man meidet diesen hohen Einsatz, weil er zur Verletzung führt. Man vermeidet Leidenschaft, und in Liebe zu verfallen ist schon zu viel Verletzung.“

Die Liebe wird ohnehin nicht das höchste Gut und Ziel des Lebens sein. Sie kann uns aber hinführen zum wichtigeren Ziel der Einheit und Ganzheit des Selbst in der gelungenen Individuation und zunehmenden Bewusstheit. Wir müssen zum Kern der Persönlichkeit vordringen, zum „punctum indivisibile“, zur Aufhebung der Gegensätze. Wenn wir der Liebe zu viel Raum geben, uns sozusagen in den andern verlieren, vielleicht ohne dass der es überhaupt wert ist, dann kommt man in eine Übertreibung und Übersteigerung hinein, wobei oft kreative Energien oder religiöse Gefühle gebunden werden, die viel produktiver genutzt werden könnten. Leider erkennt man dies oft erst hinterher. Im Verliebtsein wird eine Art von Schicksalszwang (Heimarmene) erkennbar, der die Freiheit der Wahl einschränkt. Der Eros ist ein Numinosum, ein "mysterium fascinans" wie auch ein "mysterium tremendum", Himmel und Hölle, Gott und Teufel. Im „Hohelied der Liebe“ hat Paulus im Korintherbrief über dieses Geheimnis Wunderbares geschrieben: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. ...  sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. ... Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird.  Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.“ 

In dem erwähnten Buch von Precht ist mir ein Passus etwas unangenehm aufgefallen, und zwar seine Ausführungen über Freud. Er scheint nicht sehr viel von ihm zu halten und macht sich sogar ein wenig lustig über ihn. Im Zusammenhang mit den Theorien zur Liebe sind seine Angaben aber auch unrichtig. Er meint, Freud habe eine Art "Beschädigungstheorie" vorgestellt, da er meinte, der Mensch bleibe irgendwie unvollständig durch die nicht geglückte Ablösung von der Mutter, und er suche später in der Liebe die Einheit mit der Mutter wiederherzustellen. Es stimmt wohl, dass die Ablösung von der Mutter (von der „Großen Mutter“!) nicht immer gelingt, und wir Therapeuten haben dadurch viel zu tun, aber in der Regel wird sie doch stattfinden, was mitunter eine Lebensaufgabe bleibt. Und in der Liebe wird der Mann vielleicht in der Frau einen Mutterersatz suchen und die Frau im Partner einen Vaterersatz, aber es ist doch eher so gedacht, dass die Liebe zu den Eltern eine Art Vorläuferfunktion hat, damit wir als Erwachsene richtig lieben können. In der Evolutionspsychologie (Stephen Jay Gould) wird dies teilweise genau so gedeutet, dass die Liebesgefühle sowie die damit einhergehende Ausschüttung von Glückshormonen ursprünglich die Brutpflege sichern sollten und dann als "Spandrel", sozusagen ein Nebenprodukt der Evolution, weiterbestanden. Die Sache mit dem unvollständigen Menschen findet sich eher in der griechischen Mythologie, und zwar in der Idee der "Kugelmenschen", von denen Platon im „Symposion“ erzählt (die „Aristophanische Legende“). Es habe nicht nur Männer und Frauen gegeben, sondern auch ein „drittes Geschlecht“, die „Mannweiber“, also Hermaphroditen. Demnach hätten alle Menschen ursprünglich vier Beine, vier Arme und einen Kopf mit zwei Gesichtern gehabt, und Zeus habe sie zur Strafe für ihr Aufbegehren gegen die Götter zweigeteilt. Seither leiden die Menschen an ihrer Unvollkommenheit, seien immer auf der Suche nach ihrer fehlenden Hälfte, und dies sei der Ursprung des erotischen Begehrens. Freud bezog sich zwar in „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) auf diese Geschichte, brachte sie aber in Zusammenhang mit seiner Annahme des regressiven Charakters der Triebe. Es bestehe das „Bedürfnis nach der Wiederherstellung eines früheren Zustandes“. C. G. Jung erkannte den Archetypen „Hermaphroditus“ und postulierte wie Freud den „Psychischen Hermaphroditismus“. Davon abgeleitet entwickelte er die Konzepte „Anima“ und „Animus“. Teleologisch gesehen kann natürlich die Begegnung mit dem anderen oder dem eigenen Geschlecht sehr wohl zu einer Weiterentwicklung und zu einer gelingenden Individuation führen, aber nicht, um ein Defizit auszugleichen, sondern um die Bestimmung des zum Mitmenschen hingewandten Wesens zu verwirklichen. Falls man in der Psychoanalyse von einer Beschädigungstheorie sprechen möchte, so beträfe es allenfalls die Kastrationsproblematik, wobei es nicht um eine reale Beschädigung geht, sondern um eine fantasierte. Darüber hinaus kann man in Anlehnung an Erich Neumann („Ursprungsgeschichte des Bewusstseins“ 1974) die Kastrationsangst nicht nur als Beiwerk der ödipalen Triangulation verstehen, als Angst vor der Bestrafung durch den Vater, sondern ursprünglich verbunden mit dem Archetypus der „furchtbaren Erdmutter“, die zur Befruchtung  das Blut, den zerstückelten Körper und den Phallus des „Sohngeliebten“ als Opfer einfordert. Nur so wird neues Leben möglich, durch das Sterben und die Wiederauferstehung oder Wiedergeburt.

Die „Welt des Eros“ entsteht mittels der Befreiung der Gefangenen, der Prinzessin, Ariadne oder Andromeda, wie es im Heldenmythos symbolisch dargestellt ist. Dadurch wird die „Anima“, das „obere Weibliche“, aus dem Bild der Großen Mutter herausgelöst und verbindet sich mit dem „oberen Männlichen“, was wiederum gleichbedeutend ist mit der Befreiung von der Übermacht des Unbewussten und der Weiterentwicklung des Bewusstseins. Die Befreiung der Gefangenen und die Gewinnung des Schatzes, der „schwer erreichbaren Kostbarkeit“, symbolisieren die Selbstfindung und das Schöpferischwerden der Seele, die Synthese des Ichbewusstseins mit dem kreativen Unbewussten. Es geht um das Heraufholen und die Verwirklichung jener Bilder der Seele, und diese „selbstzeugerische“, schöpferische, „göttliche“ Kraft ist es, die uns erst zu Menschen macht.

 

In den Studien der Soziologin Eva Illouz (2011 und 2013) wird erkennbar, dass es zumindest aus feministisch-soziologischer Sicht bei der Liebe offenbar immer auch um Herrschafts- und Machtfragen geht, wobei sozioökonomische Faktoren und die soziale Mobilität zusätzlich eine Rolle spielen. Es geht also nicht zuletzt ums Geld, um Konsum, um finanzielle Absicherung und die Möglichkeit, durch einen geeigneten Partner in der gesellschaftlichen Hierarchie wenn möglich aufzusteigen. Die von männlicher Seite gefühlte und natürlich nicht wissenschaftlich abgesicherte zunehmende Macht der Frauen, die uns Männer immer mehr in die Defensive drängt, wird von der anderen Seite gerade durch die Entwicklung in Liebesdingen wiederum als gefährdet angesehen! Neue Formen „emotionaler Herrschaft“ von Männern über Frauen werden ausgemacht. Im Übrigen weist die Autorin in ihrem Buch „Warum Liebe wehtut. Eine soziologische Untersuchung“ darauf hin, dass eine besondere Verletzlichkeit des Selbst in der Moderne auch dazu führt, dass gerade in den Liebesbeziehungen eine solche Verletzlichkeit, die sowohl emotionaler als institutioneller Natur ist, zum Liebesleid entscheidend beiträgt. Sie zeigt auch die Besonderheiten von Liebesglück und Liebesleid in unserer Epoche, wobei u.a. die „überwältigende Bedeutung der Liebe für die Ausbildung eines sozialen Selbstwertgefühls“ hervorgehoben wird. „Sexueller Kapitalismus“ äußere sich etwa darin, dass man seinen Selbstwert von der Anzahl der Sexualpartner abhängig macht, also Quantität gleich Qualität! Beliebige Austauschbarkeit der Objekte spricht aus psychoanalytischer Sicht aber für eine Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit. Der andere wird  nicht als geliebter Mensch in seiner Ganzheit wahrgenommen, sondern nur partial als Bedürfnisbefriediger "benutzt". In ihrem geplanten Buch „Entlieben“ geht Illouz näher ein auf die Trennungsproblematik und vermutet, dass die Beziehungspartner meist zu schnell das Handtuch werfen. Man gehe auseinander, um dadurch die eigene Identität zu formen. Die Zurückweisung des andern werde zur Bestätigung des eigenen Selbst, also zu einem Gewinn an Autonomie. Die Modalitäten der Trennung seien nicht durch ethische Regeln bestimmt, und so kann es zu sehr lieblosen und verletzenden Aktionen kommen, wie etwa die plötzliche Abschieds-SMS oder Whatsapp-Nachricht, die zudem als Zeichen der Unbeholfenheit und Hilflosigkeit in Beziehungsdingen anzusehen sind.  

Vorhandene Zusammenhänge zwischen Deregulierung der Wirtschaft, Konsumverhalten und entsprechendem Begehren auf der einen Seite und Deregulierung der Partnerwahl, Sexualität als eine Art allgemeine Metapher des Begehrens auf der andern Seite, werden erkennbar. Die „Konsumkultur“ habe zu einer Kommerzialisierung der Sexualität geführt, sowie zu einer „Sexualisierung“ der Körper und der Beziehungen. Geholfen hätten dabei die moderne Psychologie und die Psychoanalyse! Absicht war es wohl nicht, aber natürlich kann man deren Erkenntnisse auch missbrauchen, vermarkten und sogar zu Werbezwecken benutzen. Sie werden deshalb nicht falsch, aber immer wieder kann man gerade bei gebildeten Frauen eine gehörige Skepsis gegenüber der Psychoanalyse  feststellen. Handelt es sich um eine spezifisch weibliche Form von narzisstischer Kränkung, die möglicherweise mit der Kastrationstheorie zusammenhängt? So als hätte S. Freud damit den Finger in die Wunde gelegt, und das als Mann! Angeführt wird meistens der Umstand, dass S. Freud die „Verführungstheorie“ dahingehend geändert hat, dass er annahm, die von Frauen erinnerten Verführungen durch die Väter in der frühen Kindheit seien überwiegend Fantasien. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch („Sexualitäten“ 2013) meint, dass Freud fälschlicherweise den anatomischen Unterschied zwischen Frauen und Männern als Ursache des Minderwertigkeitsgefühls der Frauen ansah. Vielmehr seien es allein gesellschaftliche Mechanismen, nämlich der Sexismus und das patriarchale Denken, die daran Schuld seien und die von Freud nicht erkannt worden seien. Letztere sollte man sicherlich nicht unterschätzen, aber dennoch wäre es meiner Meinung nach verfehlt, den Kastrationskomplex einfach so ad acta zu legen. Richtig ist, dass Freud lange Zeit Mühe hatte mit der weiblichen Sexualität und sie als einen „dunklen Kontinent“ bezeichnete. Auch von femininer psychoanalytischer Seite wurde diese Problematik erkannt und thematisiert (Christa Rohde-Dachser, 1991). Eine fehlende oder nicht ausreichende soziologische Schulung kann jedenfalls leicht dazu führen, dass man die Interaktivität zwischen individuellen und gesellschaftlichen, kulturellen Vorgängen nicht genügend berücksichtigt. Als Soziologe sieht man das große Ganze, während man als Analytiker mehr das Individuelle, Einzigartige im Fokus hat. Frau Illouz etwa interpretiert Angst, ausgehend von einer autobiographischen Erzählung einer Frau, als Spannung zwischen dem Verlangen nach Anerkennung und dem Bedürfnis nach Autonomie. Die Angst habe in diesem Fall einen „gänzlich sozialen Charakter“. Abgesehen davon, dass es auch in dieser Sichtweise um einen mehr oder weniger unbewussten inneren Konflikt geht, wäre die psychoanalytische Klärung abhängig von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur, der individuellen Entwicklungsgeschichte und der aktuellen Lebenssituation. Das Symptom wird als Kompromisslösung eines intrapsychischen Konflikts gesehen, aber auch als unbewusstes „Geständnis“. Die soziologische Deutung blendet vieles aus und verengt die Perspektive, wird dem Einzelfall dadurch nicht gerecht. Das Unbehagen der Feministinnen an Freud könnte man auch so erklären, dass die Psychoanalyse zunächst im patriarchale Denken befangen blieb. Erst durch die Vertiefungen durch C. G. Jung und Erich Neumann und die stärkere Beachtung des Mythologischen und des kollektiven Unbewussten wurde dies aufgehoben.

 

Richtig erscheint bei Eva Illouz die Annahme, dass sich „ein allgemeiner Trend zur Entkoppelung von Gefühlen und Sex“ etabliert hat, wobei dies vor allem für Männer zutrifft, und dass dieses Vorherrschen einer „entemotionalisierten Sexualität“ zu größeren Schwierigkeiten führt, die tatsächlichen Gefühle und Absichten der jeweils Beteiligten zu interpretieren. Das Verlangen nach „sexuellen Erfahrungen“ hat sich natürlich auch vom klassischen Bild der Ehe entfernt und sich als Selbstzweck legitimiert. Eine sich verstärkende "Bindungsangst", wiederum hauptsächlich bei Männern, ist allerorten festzustellen und spiegelt sich in statistischen Erhebungen. Ihre größere emotionale Distanziertheit kann als Metapher der männlichen Autonomie angesehen werden, nachdem ihr Status durch gesellschaftliche Veränderungen in gewisser Weise untergraben worden war. Frauen wiederum fühlen sich inzwischen stärker als früher durch die „biologische Uhr“ unter Zeitdruck gesetzt und sehen einer Art „Verfallszeitpunkt“ entgegen, dem Schließen eines Zeitfensters, was in Verbindung mit der vermehrt ihnen anheimgestellten sozialen „Aufgabe“ der Reproduktion zu einem stärkeren Bindungswunsch führt. Vielleicht ist es wirklich so, dass Männer die Emotionalität der Frauen leichter kontrollieren können wegen deren Bindungsbereitschaft. Oft ist es ja tatsächlich so, dass Frauen von den Männern mehr Gespräch wollen, mehr gemeinsame Zeit, mehr Nähe, und dass den Männern dies eher lästig ist und sie auf mehr Abstand drängen. Eva Illouz bringt auch einige sehr schöne Ausführungen über die (vormoderne) „verzauberte“ Liebe, die „zugleich spontan und bedingungslos, überwältigend und ewig, einzigartig und total“ sei. Es handle sich um die „völlige Preisgabe des Selbst gegenüber der geliebten Person sowie die Möglichkeit (oder zumindest das Potential) der Selbstzerstörung und Selbstaufopferung um jemand anderes willen.“ Durch die moderne Rationalisierung der Lebensvollzüge sei diese „romantische Liebe“ allerdings längst entzaubert worden, entsprechend den Analysen des Soziologen Max Weber, der von einer generellen Entzauberung und Ernüchterung im Zuge der neuzeitlichen Verwissenschaftlichung und Technisierung spricht. Erneut muss allerdings auch die Psychoanalyse herhalten, um diesen Rationalisierungsprozess zu begründen. Sicherlich kann die wissenschaftliche Erforschung von Liebe und Sexualität zu einer gewissen Ernüchterung beitragen, aber sie muss die Menschen nicht daran hindern, „unsterblich“ verliebt zu sein, und die meisten sehnen sich doch immer noch nach dieser Art von Liebe. Dass eine Tendenz zur Selbstaufopferung heutzutage skeptisch hinterfragt wird und dass der persönlichen Autonomie sowie vernunftgeleitetem Handeln ein hoher Stellenwert eingeräumt werden, heißt doch nicht, dass in der Liebe ein Wunsch nach Entgrenzung und totaler Hingabe fehl am Platze wäre. Es ist ein großer Unterschied, ob man eigene Bedürfnisse immer hintanstellt und sich für andere „aufopfert“, etwa im „Helfersyndrom“, oder ob man bereit ist, für einen geliebten Menschen sein Leben hinzugeben. Die Selbstentäußerung ist zwar nicht ganz ungefährlich, aber sie muss ja nicht beständig sein. Eine Rückbesinnung und Re-Zentrierung ist kompensatorisch immer möglich und auch angezeigt, um eine „Archaisierung“ der unbewussten Funktionen und eine drohende Dissoziation der Persönlichkeit zu vermeiden. Natürlich kann man den Zustand des Verliebtseins in gewisser Weise als einen „krankhaften“ oder „wahnhaften“ Zustand ansehen, als eine die Anpassung störende Projektion, aber doch nur mit einem Augenzwinkern, denn „Heilung“ ist keinesfalls erwünscht, sie kommt irgendwann von selbst.  

Die Bindungsangst oder eher Beziehungsangst der Männer hängt wohl ebenso und unabhängig von modernen Entwicklungen mit einer Besonderheit der männlichen Psyche zusammen: In der Bewusstseinswelt des „Logos“ kommt es zu einer stärkeren Isolierung des Männlichen, im Zuge einer „gesteigerten Ich- und Bewusstseins-Bildung und -Festigkeit“ (Erich Neumann: „Zur Psychologie des Weiblichen“, 1986)

Der Umstand, dass manches Liebesleid durch überzogene Erwartungen und dadurch unvermeidlich entstehende Enttäuschungen zustande kommt, erscheint ebenfalls als wichtiger Hinweis, wobei die durch die Medien belebte und in "hoher Auflösung" funktionierende Imagination und fiktionale Vorwegnahme eine entscheidende Rolle spielen. Die Realität bringt meist eine gewisse Ernüchterung, die nur zeitweilig durch die Idealisierung der geliebten Person gemildert werden kann. Insbesondere durch das Internet wurde die Möglichkeit von "interaktioneller und fiktionaler Emotionalität" geschaffen, verbunden mit der Aufrechterhaltung von Beziehungen durch virtuelle, phantomhafte Anwesenheiten, wobei es teilweise gar nicht mehr erforderlich ist, der anderen Person im realen Leben zu begegnen, ein Triumph der Imagination!  

 

Es gibt den Spruch „Wer liebt, hat immer recht.“ Es handelt sich dabei wohl um die Abwandlung eines Ausspruchs von Augustinus: „Liebe, und dann tu was du willst!“ Die genau entgegengesetzte Meinung vertrat Goethe in  „Werthers Leiden“: “Wer liebt, der hat immer schon verloren.“ Und in den „Wahlverwandtschaften“ schrieb er : „Denn so ist die Liebe beschaffen, dass sie allein Rechte zu haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr verschwinden.„ Nietzsche hingegen meinte: „Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.“

 

Für den Philosophie-Professor Dieter Thomä gibt es eine einfache Erklärung, warum in Liebesdingen so oft die sonst geltenden Regeln verletzt werden: "In der Liebe geht die Autonomie des Individuums verloren". Eine wirklich freie Entscheidung kann der Liebende demnach nicht mehr treffen, und es kann schon mal passieren, dass alle Sicherungen durchbrennen oder, wie Freud es formulierte, der Reiter sich dem durchgehenden Ross überlässt! In unseren modernen, aufgeklärten Zeiten muss der Einzelne die große Spannung zwischen der Selbstverantwortung und Anpassung als soziales Wesen einerseits und der Selbstvergessenheit in der Liebe andererseits irgendwie ertragen. Natürlich kann man sich in der Liebe auch täuschen, sich verirren, blind sein vor Liebe. Die Ernüchterung und „Entidealisierung“ lassen nicht auf sich warten, aus zu viel Nähe wird spürbare Distanz und manchmal auch die Trennung, unter Umständen mit der schon erwähnten Umkehr von Liebe in Hass und dem jeweiligen „Rosenkrieg“. Glückt nach der Krise eine „Wiederannäherung“, dann kann sich im besten Fall aus dem Verliebtsein ein Gefühl inniger Verbundenheit und tiefer Freundschaft entwickeln, das ein Leben lang anhält und durch nichts zu ersetzen ist.

 

Aber auch aus den Enttäuschungen ist viel zu lernen, denn man hat sich ja im anderen getäuscht, Dinge bewusst oder unbewusst übersehen, ausgeblendet, die irgendwann zum Beziehungsabbruch führen, der um so schmerzlicher ist, je mehr man in die geliebte Person „investiert“ hatte. Natürlich sind der Liebe auch Grenzen gesetzt, selbst wenn sie danach trachtet, solche zu überschreiten, und es hat immer wieder Menschen gegeben, die sich getraut haben, dies zu tun. Denken wir nur an Romeo und Julia, wo die Liebe stärker war als Feindschaft und an Bonnie und Clyde, das gesetzlose Paar auf der Flucht. Oder an den Film „Harold and Maud“, wo der Altersunterschied der Liebe nicht im Wege steht. Der Schauspieler und Autor Burkhard Driest ging so weit, eine Bank zu überfallen, um einer geliebten Frau zu imponieren, und musste dafür zwei Jahre hinter Gitter. Später meinte er, dass sich so zwar ein kurzes Glücksgefühl einstelle, aber echte Liebe und Respekt ließen sich auf diesem Wege nicht erreichen. In einem französischen Chanson heißt es: "Liebesglück dauert nur einen Moment, Liebeskummer hingegen ein ganzes Leben!" ("Plaisir d`amour" - Jean-Pierre Claris de Florian).

 

Eros gehört in der ursprünglichen griechischen Mythologie zu den ersten Göttern. Nyx, die Nacht, legte in der Ur-Nacht in der Gestalt eines dunklen Vogels und befruchtet vom Wind ein silbernes Ei, und aus ihm trat der Sohn des wehenden Windes, ein Gott mit goldenen Flügeln, hervor, der Gott der Liebe, Eros. In einer anderen Version entstanden aus dem Chaos, dem „Gähnen“, Gaia, die Erdgöttin, und Eros, der schönste unter den Unsterblichen, der die Glieder löst und den Geist aller Götter und Menschen beherrscht. Eros wurde auch gleichgesetzt mit dem orphischen Schöpfergott Phanes oder Phaeton, dem „Protogonos“, der aus dem Welt-Ei hervorging, und mit Helios, dem Sonnengott. (Karl Kerényi: „Die Mythologie der Griechen“ 1994)

 

Es gibt einen Schatten des Eros, namens Anteros. Er ist der Bruder des Eros und gleichzeitig der Gott der Gegenliebe, der Rächer der verschmähten Liebe. Aphrodite gebar ihn als Kontrahenten, da sie annahm, dass ihr Sohn Eros nur so wachsen könne. Als Rachegott trägt er den Beinamen Alastor. Dem Anteros Alastor war nahe der Akropolis von Athen ein Altar geweiht. Pausanias erzählt dazu die Legende, dass ein Athener Bürger namens Meles die ihm von dem Metöken Timagoras entgegengebrachte Liebe nicht nur zurückwies, sondern ihn auch noch aufforderte, von der Akropolis zu springen, als Beweis seiner Liebe, was Timagoras dann auch tat. Als Meles die Folgen seines Verhaltens sah, wurde er derart von Reue geplagt, dass er gleichfalls von der Akropolis sprang. Liebe und Hass, Liebe und Tod sind eng miteinander verbunden. Höchste Glückseligkeit kann gefolgt sein von abgrundtiefer Verzweiflung, etwa durch Zurückweisung, durch Trennung oder einen zerstörerischen Rosenkrieg. Schon Empedokles hatte erkannt, dass Liebe (philia) und Streit oder Hass (neikos) die Ursachen allen Weltgeschehens sind, die in unablässigem Kampf miteinander stehen, in einem ewigen Siegen und Unterliegen. Zur Verknüpfung zwischen Liebe und Tod gibt es eine mythologische Grundlage, die im Mysterienkult von Eleusis zum Ausdruck kam. Dem Raub der Kore Persephone durch Hades entspricht symbolisch die Ablösung der Tochter von der Mutter (Demeter) und die Vermählung mit einem Mann (Thema Brautraub), und dieser Vorgang wird durch den Abstieg in die Unterwelt mit dem Tod gleichgesetzt. Tod insofern, als dem Schicksal anheimfallend und doch auf dem Höhepunkt des Lebens stehend. Darüber hinaus geht es um das Wissen mit dem Inhalt „Sein im Tod“. Auch Paris, der das Angebot von Aphrodite annimmt und die Liebe wählt, nicht aber Macht, Reichtum oder Ruhm, erfährt genau dadurch die Rache der beiden anderen mächtigen Göttinnen. Krieg, Zerstörung, Leid und Tod sind die Folge.  

 

Zusammenfassend wäre festzustellen, dass man die Liebe trotz allem wagen sollte, denn sie gehört zu einem erfüllten Leben und zu einer gelingenden Individuation, aber man muss sich der Gefahren bewusst sein, die mit ihr verbunden sind und auch der (lohnenden) Mühen, die für ein Gelingen und ein Überwinden von Krisen erforderlich sind. Wenn wir es wagen, über die Liebe zu schreiben, so muss uns bewusst sein, dass es sich im Grunde um ein Gefühl handelt, ein aktives, gerichtetes im Sinne von lieben oder ein passives im Sinne von verliebt sein. Das Denken und das begriffliche Formulieren kann das Fühlen nie völlig in seinem Wesen erfassen, und somit bleibt all unser Philosophieren nur an der Oberfläche des Phänomens. Jeder weiß aber, was gemeint ist, und kann sich selbst auf seine Art zu lieben und verliebt zu sein stützen, um zu begreifen, was die Worte zu umschreiben versuchen. Im weitesten Sinne bedeutet Eros die Bezogenheit auf das andere, auf die oder den anderen, sowie die damit verbundenen Gefühle, Impulse und Ahnungen. Letztlich ist Eros ein Numinosum, eine archetypische Vorstellung, und keiner kann das Geheimnis einer wirklich tiefen Liebeserfahrung voll erfassen. „Wer sich dem nicht hingeben kann, der hat nie gelebt, und wer darin untergeht, hat nichts verstanden.“ (Marie-Louise von Franz)

Sicherlich kann man mit Volkmar Sigusch (2013) sagen, dass die Liebe in gewisser Weise eine kulturelle Mystifikation darstellt, aber auch die unverzichtbarste, da sie sich der Ökonomisierung unserer Lebensverhältnisse entgegenstellt, sowie der zunehmenden sozialen Kälte und Verdinglichung. Auf die Frage, wie man denn sicher sein könne, geliebt zu werden, antwortet Sigusch: „Wenn du in den Armen einer anderen sterblichen Person wie ein kleines Kind weinen kannst, ohne ein Gefühl der Scham.“

„Ein Mensch, der nicht durch die Hölle seiner Leidenschaften gegangen ist, hat sie auch nie überwunden.“

C. G. Jung: „Erinnerungen –Träume – Gedanken“  

 

Narzisstische Wut und Hass

 

Einige Worte zum „Narzissmus“: Meist denkt man dabei an eine Art Selbstverliebtheit, die Neigung zur Selbstbespiegelung und Eitelkeit. Psychoanalytisch gesehen sind wir aber hier schon im Bereich des gestörten Narzissmus oder des Sekundärnarzissmus. Der sogenannte Primärnarzissmus hingegen ist in seiner gesunden Ausprägung eine notwendige Grundlage des Selbst, das "narzisstische Selbst", um sich und andere lieben und annehmen zu können so wie sie sind und um Mitgefühl zu empfinden. Es gibt aber narzisstische Kränkungen und narzisstische Störungen  mit möglicherweise fatalen Auswirkungen. Die gelungene Integration des narzisstischen Selbst in das Ich zeigt sich, gemäß den Forschungen von Heinz Kohut, insbesondere in schöpferischer Begabung und Aktivität, in Einfühlungsvermögen, in der Fähigkeit, die Begrenztheit des eigenen Lebens ins Auge zu fassen, wobei auch die Vergänglichkeit von Objektbesetzungen und Trennungserlebnisse miteinbezogen werden und keine Resignation und Hoffnungslosigkeit aufkommen wird, sondern eine ruhige Gewissheit und Annahme der Endlichkeit, verbunden mit einem gewissen inneren Gefühl des Triumphes, bei gleichzeitiger unverleugneter Traurigkeit, im Sinn für Humor, der eine nur dem Menschen zur Verfügung stehende Möglichkeit ist, sogar das eigene Ende zu relativieren, etwa im "Galgenhumor", und in der Weisheit, die insbesondere darin besteht, dass man die Grenzen der eigenen Kräfte und Fähigkeiten anerkennt, und die alle zuvor genannten Einstellungen und Eigenschaften der gereiften Persönlichkeit mit beinhaltet.  

 

Narzissmus ist für den Psychoanalytiker nichts Negatives, im Gegenteil. Er gehört zur normalen Ausstattung eines jeden Individuums, und er bildet sich aus in der frühesten Kindheit, wobei der liebende Blick der Mutter und des Vaters oder anderer wichtiger Bezugspersonen von entscheidender Bedeutung sind. Dieses „Gespiegeltwerden“ ist die Grundlage des Selbstwertgefühls, der Selbstachtung und der Liebe zu sich selbst, also des Narzissmus in seiner „gesunden“ Ausprägung. Problematisch wird es, wenn ein Zuviel oder Zuwenig an Spiegelung oder Bestätigung stattfinden oder wenn sogar erhebliche „narzisstische Kränkungen“ das Selbst unterminieren. Dann kann es zu einer krankhaft überhöhten Selbstwahrnehmung kommen, zu Fantasien der „Grandiosität“, um die Gefahr der Entwertung und entsprechende depressive Gefühle abzuwehren, oder es kommt zu einer übersteigerten Empfindlichkeit gegenüber Kränkungen jeglicher Art und einer damit einhergehenden Beziehungsunfähigkeit, da zumindest kleinere Kränkungen im Umgang mit anderen nie ausbleiben. Liebe kann dann sehr schnell in Hass umschlagen, und der zuvor Idealisierte wird nun völlig entwertet fallen gelassen oder sogar verfolgt. Nur wenn es gelingt, den Symbolwert des Objekts zu erkennen und die Projektion zurückzuziehen, ist eine gelungene Ablösung möglich! Man kann also jemanden zunächst lieben und ihn dann zerstören, um ihn zu beherrschen. Gefährlich wird es zudem, wenn das Subjekt auf der narzisstischen Stufe stehen bleibt. Die Selbstzentrierung ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Autonomie, weg von der uroborischen Verschmelzung und der festhaltenden, verschlingenden, kastrierenden "Großen Mutter", hin zu Selbstgestaltung und zunehmender Ich-Festigkeit. Im Mythos verfällt Narkissos, von der Nemesis bestraft wegen seiner herzlosen Zurückweisung von weiblichen und männlichen Liebhabern, seinem eigenen Spiegelbild und geht zugrunde. Er wird das Opfer der Aphrodite, der "Großen Mutter", die ihn in seinem eigenen Spiegelbild verführt und vernichtet. Die sich selbst spiegelnde Reflexion des Ich, das sich von der Macht des Unbewussten befreien will, wird zu einer Untergang bringenden Selbstliebe (Erich Neumann „Ursprungsgeschichte des Unbewussten.“ 1974)Man könnte auch von einer Spiegelung der Anima sprechen, die als Projektion auf eine geliebte Person immer auch mit dem Selbst verbunden ist. In der hermetischen Philosophie wiederum gibt es die Vorstellung vom "himmlischen Anthropos", dem "Lichtmenschen" der Gnosis, der sich im Wasser, in der dunklen Materie spiegelte, und sich in sie, in die "niedere Natur", verliebte. Diese wiederum verliebte sich in ihn, und so vereinigten sich beide. Die Vereinigung zwischen Himmel und Erde und deren anschließende Trennung sind Bestandteil zahlreicher Schöpfungsmythen.  

 

Bei Otto F. Kernberg und insbesondere bei Heinz Kohut finden sich Ausführungen über die Störungen des Narzissmus, wobei der letztere sich speziell zur "narzisstischen Wut" geäußert hat: "Der narzisstisch Gekränkte aber kann nicht ruhen, bis er den unscharf wahrgenommenen Beleidiger ausgelöscht hat, der wagte, ihm entgegenzutreten, nicht mit ihm übereinzustimmen oder ihn zu überstrahlen." Entwertung bedeutet also eine unverhältnismäßig negative Bewertung eines Objektes oder einer Objektrepräsentanz zum Zweck der Erhöhung oder Stabilisierung des eigenen Selbstbildes. In diesem Zusammenhang verweist Kohut zudem auf das Rachethema und dessen literarische Verarbeitung in den Werken des Heinrich von Kleist "Michael Kohlhaas", wo von "schäumender Wut" die Rede ist, von der "Hölle unbefriedigter Rache" und vom zunehmenden Größenwahn des Gekränkten, dessen Frau und er selbst letztlich umkommen, und Herman Melvilles "Moby Dick": Kapitän Ahab verfolgt so lange seinen "Intimfeind", den großen Wal, bis er selbst und sein Schiff untergehen. Auch in Kleists "Penthesilea" geht es um rasende Wut, die im Kampf gegen den eigentlich geliebten Achilles letztlich zu dessen Zerfleischung und Vernichtung führt, wobei es die Herrscherin der Amazonen erst gar nicht glauben will, dass sie für diese Tat verantwortlich ist und sich schließlich selbst richtet, um dem Geliebten in den Tod zu folgen. Alles passierte wie in einem Traum, aus dem sie erwacht und zunächst bei anderen die Schuld sucht. Im Mythos war es allerdings Achill, der Penthesilea im Kampfe mit dem Schwert erschlug, sich in sie verliebte, als er ihr den Helm abnahm und seine Tat bedauerte. Der Autor Navid Kermani (2012) meint, dass es sich bei Kleists Penthesilea auch um die Inszenierung einer archaischen Form von Liebe handelt, um Besitzergreifung, Machtausübung, um ein Sich-einverleiben-Wollen des Andern bis hin zum kannibalischen Akt. "Sie will ihn mehr als nur mit Leib und Leben besitzen, sie will ihn ganz und gar in sich aufnehmen..." Die Abspaltung der Penthesilea geht überdies noch weiter, da sie nicht nur das eigene Handeln verleugnet, sondern auch noch von zwei Tätern ausgeht: einer, der Achill ermordete und ein anderer, der ihn verschlang. Dem einen will sie vergeben, aber dem anderen nicht, da sie in ihm einen Nebenbuhler sieht, der Achill geliebt haben muss. Kermani sieht sogar einen Bezug zum Abendmahl: "Nehmt, das ist mein Leib! Das ist mein Blut!" Kleist vergleiche Achill mit Christus: "Ach, diese blutgen Rosen! Ach, dieser Kranz von Wunden um sein Haupt!"  

 

In der griechischen Mythologie gibt es eine beispielhafte Geschichte über die der narzisstischen Wut zugrundeliegende Kränkung. Die Götter waren zwar unsterblich, aber doch verwundbar, und Homer berichtet von Hera und ihrem unheilbaren Leid, nachdem ein Pfeil des Herakles sie an der Brust verletzt hatte. Karl Kerényi ("Prometheus") geht davon aus, dass Homer und nachfolgende Dichter weniger den körperlichen Schmerz meinten, sondern ein "ewiges Beleidigtsein“, die „unheilbare Wunde im Herzen der göttlichen Juno" (Vergil), wobei die menschliche Verwundbarkeit im Mythos auf das Göttliche projiziert erscheint. Und Reinhard Haller erwähnt in seinem Buch „Die Macht der Kränkung“ (2015) ganz richtig, dass bei narzisstisch Gestörten die Nachhaltigkeit von Kränkungen ganz  besonders ausgeprägt sei.

In einer Geschichte aus dem kretischen Mythos richtet sich die narzisstische Wut gegen denjenigen selbst, der die Liebe eines  anderen verschmäht und ihn durch scheinbar unlösbare Aufgaben in den Tod schicken will: „Erster-in-der-Schlacht und Blond-Mähne“ (Andrew Calimach, 2014). Ein egozentrischer Jüngling, der sich gegenüber der Liebe eines tapferen Mannes unempfänglich zeigt, wird von Eros bestraft und begeht am Ende Selbstmord. Calimach schließt daraus, dass in der griechischen Päderasten-Tradition die Weigerung eines Jungen, sich auf Liebesaffären mit guten Männern einzulassen, als Affront gegen den Gott der Liebe und als virtueller Selbstmord angesehen wurde.

 

Kohut spricht von der möglichen Ausbildung einer "chronischen narzisstischen Wut", die er als die Entwicklung eines "der bösartigsten Übel des menschlichen Seelenlebens" ansieht, als eine die ganze Persönlichkeit durchdringende Haltung. Diese kann dann zu wohlorganisierten Feldzügen führen, die als Ausdruck einer endlosen Rachsucht mit endloser Leidenschaft in Gang gehalten werden. Es geht um Machtausübung (Omnipotenz) und Gewalt, um absolute Kontrolle und Beherrschung des Selbstobjektes. Von Konfuzius stammt der Ausspruch: „Bevor du dich auf eine Reise der Vergeltung begibst, hebe zwei Gräber aus.“ Die TV- Serie „Revenge“ (2011) stellte diese Worte an den Beginn und zeigt, wie Unrecht mit immer wieder neuem Unrecht begegnet wird und ein Kreislauf der Zerstörung in Gang kommt, wenn es nicht um Vergebung, sondern um Vergeltung geht. Die Philosophin Martha Nussbaum meint in ihrem Buch „Zorn und Vergebung. Für eine Kultur der Gelassenheit“ (2017), dass Rache und Vergeltung dem magischen Denken entspringen, nämlich der Vorstellung, dass dadurch erlittenes Unrecht wieder geheilt werden könne.

In diesem Zusammenhang soll daran erinnert werden, dass es in der Geschichte immer wieder dazu kam, dass bestimmte Menschen oder Gruppen entwertet oder gar entmenschlicht wurden, und wohin das führte! Narzisstisch gestörte Machthaber haben Völker und fast die ganze Welt ins Chaos gestürzt, mit unendlich viel Leid und Zerstörung! Kennzeichnend für narzisstisch Gestörte ist vor allem das völlig fehlende Mitgefühl und Einfühlungsvermögen, insbesondere gegenüber der Person, gegen die sich die Wut richtet, ohne Rücksicht auf die Folgen und mögliche Kollalateralschäden. Sie können nicht das geringste Verständnis für ihre Gegner aufbringen! Der Theologe Karl Rahner hat den Narzissten mit einem Ofen verglichen, der nur sich selbst wärmt. Für andere bleibt nichts mehr übrig! Fehlende Empathie einer Mutter gegenüber den Bedürfnissen eines Kindes kann bei diesem ebenfalls zu einer narzisstischen Störung führen! Es wird berichtet, dass bei manchen Soziopathen zwar ein stark ausgeprägtes Gespür vorhanden zu sein scheint für das, was in anderen vorgeht, aber es handelt sich hierbei nicht um Mitgefühl oder gar Mitleid, und diese Fähigkeit wird ausschließlich zum eigenen Vorteil genutzt. Man muss also mit Paul Ekman (2011) wohl unterscheiden zwischen einer rein „kognitiven“ und einer „emotionalen“ Empathie. Bei ersterer erkennt man, was der andere fühlt, bei letzterer fühlt man, was der andere fühlt. Die Untersuchungen des französischen Hirnforschers Christian Keysers bez. der Spiegelneuronen legen wiederum nahe, dass manche Menschen die Fähigkeit haben, Empathie beliebig an- und auszuschalten. Bei „Psychopathen“ sei sie in der Regel ausgeschaltet, aber sie können sich sehr gut in andere einfühlen, wenn es darum geht, sie für ihre Zwecke zu manipulieren. Auch die Angehörigen bestimmter Berufsgruppen sollen demnach gelernt haben, das Mitgefühl zeitweilig auszuschalten, etwa Zahnärzte, sinnvollerweise.  

 

Störungen des Narzissmus lassen sich behandeln, und sie sind Bestandteil von vielen psychischen Störungen, insbesondere der Persönlichkeitsstörungen und der Depression. Wichtig ist die "korrigierende Erfahrung", also die zuverlässige Bestätigung und Wertschätzung durch einen anderen Menschen oder den Psychotherapeuten, der ja wie ein Spiegel wirken soll, in dem sich der andere findet und neu konstituiert. Auf diese Weise ist es möglich, die „ontologische Verankerung" (Simon May) herzustellen, nämlich das Gefühl, in der Welt zu Hause zu sein.

 

Es gab zuletzt einige Publikationen über die narzisstische Persönlichkeitsstörung, darunter auch Bestseller. Eine davon ist betitelt: „Rote Karte für Narzissten: Beziehung und Trennung überleben.“ Die Autorin heißt Dr. Claudia Schlembach. Das Buch könnte interessant sein, aber es wird alles aus der Perspektive einer Frau gesehen, nach dem bekannten Muster: Männer sind Täter, Frauen sind die Opfer. Es ist nur ein einziges Mal von narzisstischen Frauen die Rede, und zwar im Zusammenhang mit Paaren von zwei Narzissten, die jedoch eher selten sein dürften, da der oder die narzisstisch Gestörte sich ja in der Regel einen Partner sucht, der lieber gibt als nimmt, wie es richtig beschrieben wird. Wäre das Buch eine Art von Autobiografie, könnte man das noch nachvollziehen, aber die Dinge werden verallgemeinert, und es ist immer nur die Rede von „ihm“. Richtiger wäre es gewesen, vom narzisstischen Partner zu reden, ohne Festlegung auf Mann oder Frau. So aber ist das Buch einseitig und tendenziös, leider! Die Autorin hat offenbar auch mehr Ahnung von Business und Verkaufstaktiken als von Psychologie und insbesondere Psychopathologie. In einem persönlichen Austausch schrieb mir die Autorin, dass sie ganz bewusst nur einen männlichen Narzissten vorstellen wollte, ohne diskriminierende Absicht! Über den weiblichen Narzissmus und den „Hunger nach Anerkennung“ hat u. a. Bärbel Wardetzki geschrieben, die in ihrer Arbeit mit bulimischen Frauen auf dieses Phänomen gestoßen ist.

 

Es war hier noch nicht die Rede von den großen narzisstischen Kränkungen der Neuzeit, aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet. Zu nennen wäre einmal die „kopernikanische Wende“, die den Mittelpunkt nicht mehr länger in der „Welt“ sah, sondern zunächst im Zentralgestirn, ganz zu schweigen vom Kosmos, in dem wir nur ein Staubkorn sind. Dann die darwinsche Lehre von der „Abstammung der Arten“, als die Menschheit erkennen musste, dass sie gar nicht so weit entfernt ist vom Tierreich und lediglich zu den höheren Säugetieren gehört. Und schließlich die Erkenntnisse von Sigmund Freud, dass wir gar nicht Herr im eigenen Hause sind, sondern vom Unbewussten weitgehend gesteuert werden. Für das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der Menschen waren dies harte Schläge, die längst nicht verarbeitet sind und zu Recht eine Haltung der Demut und Besonnenheit bedingten, die schon die antiken Denker anmahnten. Der Philosoph Heiner Mühlmann nennt in „Natur der Kulturen“ (1996) noch weitere Kränkungen, wie die Quantentheorie, die künstliche Intelligenz, die Genetik, die Ökologie, um nur einige zu nennen. Der „kulturelle Narzissmus“ musste immer wieder ins Gleichgewicht gebracht werden durch kompensatorische Mechanismen und Neuinterpretationen der Stellung des Menschen in der Welt und im Kosmos. Die metaphysisch begründete Selbstüberhöhung und der Glaube an eine Sonderstellung im All werden durch die Kränkungen hinfällig. Dies sollte zu einer Verringerung von zwischenmenschlichen Konflikten und zu mehr Solidarität und Zusammenhalt führen. Davon ist bisher leider nicht viel erkennbar! Um dies zu begreifen, muss man keine sich verselbstständigenden „Makrostrukturen“ und kein „kulturelles Hypersubjekt“, mit aggressiver und übermächtiger Dynamik postulieren. Ein plausibles Erklärungsmodell bietet C. G. Jung mit seiner Annahme des kollektiven Unbewussten und der Konstellierung von Archetypen, die ganz unabhängig vom rationalen Erfassen das Verhalten von Menschen und Gesellschaften beeinflussen. Diese Annahmen wurden von Mircea Eliade („Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr.“ 1949) bestätigt, der etwa im Mythos der  aus mittelalterlich skandinavischen Quellen bekannten  „berserkir“ oder „beriserkre“, der mit einem Bärenfell bekleideten „wilden Krieger“, das Urbild des „furor“, der rauschhaften, „heiligen Wut“ verkörpert sieht. Er weist darauf hin, dass jeder Konflikt, jedes Duell und jeder Krieg keinesfalls rationalistisch zu erfassen seien, sondern dass immer die rituelle Bedeutung und die damit verbundene Belebung eines Archetypus berücksichtigt werden müssen. Der Krieger ahmt einen "Heros" nach und versucht, sich diesem Vorbild so weit wie möglich anzunähern. Durch jede Wiederholung einer archetypischen Handlung wird die „profane Zeit“ aufgehoben, und der Handelnde wird Teilhaber der mythischen Zeit. Es handelt sich um die Suche nach dem wirklichen und wahren Sein und um die Angst, in die Bedeutungslosigkeit einer profanen Existenz zu versinken. Diese Erkenntnisse gewinnen gerade aktuell eine große Bedeutung hinsichtlich des „Heiligen Krieges“ von radikalen Islamisten! „Heilige Wut“ erfasste auch Moses, gemäß der in erster Linie symbolisch zu verstehenden Sinaigeschichte, als er sein Volk um das goldene Kalb tanzen sah und ein Massaker an den Abtrünnigen anordnete. Die Gefahr von gewaltförmigen Auswüchsen bei religiösen Überzeugungen wird hier ersichtlich, vor allem, wenn von „Auserwählung“ und Singularität die Rede ist.  

Anzumerken ist hier allerdings, dass es Vorformen des Krieges schon bei den Schimpansen gibt. Jane Goodall entdeckte, dass diese manchmal überfallartig Mitglieder benachbarter Gruppen angreifen, um sie zu töten. Innerhalb der Gruppe finden Aggressionen hauptsächlich zwischen rivalisierenden Männchen statt.

 

Schuldfähigkeit und der freie Wille

 

Der amerikanische Neurowissenschaftler David Eagleman erforscht die Verhaltenssteuerung und die Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Bewusstsein und Handeln, wobei die Relevanz für die Rechtssprechung und das Umgehen mit Straftätern aller Art auf der Hand liegt. Die neuesten Forschungsergebnisse bestätigen zum Teil eindrucksvoll die Theorien von Sigmund Freud, relativieren sie aber auch teilweise, etwa im Hinblick auf das „Ich“. Eagleman jedenfalls betrachtet das „Ich“ nur noch als ein Märchen. Es gebe eher ein „Wir“, und unsere Handlungen seien das Ergebnis von „inneren Verhandlungen“, bei denen verschiedene neuronale Schaltzentren miteinander interagieren und wir „einen gewissen Einfluss“ auf das Endergebnis haben, mehr nicht. Wir sind also sozusagen nur „am Rande des Universums“, wobei er den Vergleich mit der Kosmologie wählt, nicht im Mittelpunkt, und bekommen relativ wenig mit vom Geschehen. Unser Eindruck, dass wir die Kontrolle haben und eigene Entscheidungen treffen können, wäre demnach nur eine Illusion. Im Umgang mit Straftätern wird entsprechend immer weniger der Aspekt des Bestrafens, der Sühne, der Abschreckung und der damit verbundene Bezug zur Ethik im Vordergrund stehen dürfen, sondern die Frage des Helfens und Therapierens, wobei natürlich der Schutz der Allgemeinheit weiterhin eine wichtige Rolle spielen wird, wie auch eine angemessene Wiedergutmachung. "Therapieren" sollte nicht mit Zwangspsychiatrisierung verwechselt werden! Das "gesunde Volksempfinden" sollte jedenfalls nicht die Richtschnur der Gesetzgebung sein! Vor allem die Begriffe Schuld und Verantwortung müssen neu überdacht werden und damit einhergehend natürlich auch die Begriffe Schuldfähigkeit bzw. Schuldunfähigkeit. Es geht hier wohl um Grenzbereiche zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, und man könnte Eagleman wie auch anderen Hirnforschern vorwerfen, dass sie ihre Kompetenzen überschreiten. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Reduktionismus“, von einem „Kategoriensprung“ zwischen Materiellem und Mentalem. Einwenden kann man insbesondere, dass die unter Laborbedingungen untersuchten Handlungsabläufe nicht unmittelbar auf komplexe Entscheidungen im Alltag wie etwa die Berufswahl übertragen werden können. Zwischen Absicht, Planung und Ausführung liegen hier längere Zeiträume. Es handle sich um einen „Kategorienfehler“ zu sagen, „das Gehirn“ entscheide und nicht der Mensch, denn schon Aristoteles wies darauf hin, dass es falsch sei, zu sagen „die Seele ist zornig“. Richtig sei vielmehr: „Der Mensch ist zornig kraft seiner Seele“. Also müsste es heißen: Der Mensch entscheidet mittels seines Gehirns, oder wie es der Hirnforscher Gerhard Roth (2004) formuliert: „Das Gehirn nimmt die subjektiv empfundene Entscheidung vorweg.“ Er schätzt, dass uns weniger als 0,1 Prozent dessen, was das Gehirn tut, aktuell bewusst wird! Der enorme Rest wird unbewusst erledigt. Das Unbewusste kann somit eine Vielzahl von Informationen gleichzeitig verarbeiten. Der Neurowissenschaftler Lüder Deeke, der 1964 als Student das „Bereitschaftspotential“ entdeckte, hat mittlerweile Experimente mit Bungeespringern durchgeführt und kommt zu dem Schluss: „Mein Gehirn kann nicht gegen mich sein. Mein Gehirn – das bin doch auch ich!“ Hatte er ursprünglich das  „Bereitschaftspotential“ als unbewussten Vorgang angesehen, so belehrten ihn die neuen Befunde eines Besseren. Was natürlich nicht heißen muss, dass es keine unbewussten Vorgänge gibt!  

Der Sozialpsychologe John Bargh („Vor dem Denken“ 2017) konnte in seinen Untersuchungen die Macht unbewusster Vorgänge, kultureller Prägungen und unseres evolutionären Erbes aufzeigen, schloss aber bewusste Kontrolle nicht aus. Die Frage sei letztlich, in wie weit unser Verhalten von  „innen“ gesteuert wird. Dem Bewusstsein falle es allerdings sehr schwer, anzuerkennen, dass andere Kräfte mit im Spiele sind. Interessanterweise scheinen gerade jene, die unbewusste Faktoren am stärksten leugnen, am anfälligsten zu sein für Manipulation. Wichtig sei die Zeitdimension: „der Geist“ existiere, wie das gesamte Universum, gleichzeitig in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wobei diese teilweise im Verborgenen liegen, in einer Art multidimensionaler Zeitschleife. Leider definiert der Autor den Begriff „Geist“ nicht, , und seine Absicht, „das wahre Wesen des menschlichen Geistes aufzudecken“, ist wohl eine Art von Hybris, und auch ihn könnte die Nemesis ereilen! Seine Kritik an der Psychoanalyse und Freud ist (wieder einmal) zu oberflächlich, etwa wenn er behauptet, Freud habe das Unbewusste als ein unangepasstes System angesehen. Seinen Traum vom Alligator, der aus dem Sumpf und dem schwarzen Wasser auftaucht, könnte man noch ganz anders deuten, als der Autor es tut. Es geht zwar auch, aber nicht nur um das Unbewusste, welches zuerst da ist, sondern vor allem um eine archetypische Vorstellung, die mit dem Schöpfungsmythos zu tun hat, ähnlich wie die Schildkröte, und die bei den Ägyptern als  Wasser- und Fruchtbarkeitssymbol heilig war (Gott Sobek mit Krokodilskopf). Das Krokodil kann andererseits als Symbol negativer, aggressiver Impulse gesehen werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Iatmul auf Neuguinea glaubten, dass ein Krokodil auf den Grund des Urmeeres tauchte, Schlamm empor holte und aus diesem eine Insel formte. Dies erinnert an das Bild, das C. G. Jung gebrauchte, um die Beziehung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten darzustellen: eine kleine Insel inmitten des Ozeans. Symbolisch wäre demnach das Krokodil für die Entstehung des Bewusstseins verantwortlich! Auch in einer Krokodillegende aus Osttimor („Das gute Krokodil“) entsteht eine Insel, und das Krokodil erweist sich als hilfreiches Tier! Die Tolteken (Mexiko) glaubten an Cipactli, erst Fisch, dann Krokodilungeheuer, eine dunkle Fruchtbarkeitsgöttin, die nach Menschenherzen und Blut verlangte, Ursprung der Menschenopfer Aus ihr entstand die Welt nach der Aufspaltung durch die zwei göttlichen Schlangen in Erde und Himmel. Möglicherweise ist dem Autor also die tiefer liegende und weiter gehende Bedeutung nicht klar geworden, da er sich mit der naheliegenden Sinngebung zufrieden gab.

Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass das Wollen als Willensakt, der einer bewussten, zielgerichteten Tätigkeit vorausgeht, ein beobachtbares psychisches Phänomen ist, die Willensfreiheit dagegen nicht. Sie ist nur als Überzeugung oder Glaube eine beobachtbare Erscheinung und gehört somit vor allem in den Bereich der reinen Geisteswissenschaft, insbesondere der Philosophie. Kaum jemand weiß, dass bis ins 16. Jahrhundert und sogar noch 1916 und 1994 auch Tiere vor Gericht gezerrt und abgeurteilt wurden, und man ihnen somit Schuldfähigkeit zusprach, auch wenn es angeblich nur dem biblischen Auftrag entsprochen habe, sich die Erde untertan zu machen. Historiker vermuten allerdings, dass Allmachtsfantasien von übereifrigen Juristen die Ursache waren, die alles dem Recht unterordnen wollten. Passend dazu praktizierte die katholische Kirche zu dieser Zeit noch Tierbannungen und Exorzismen.

Analog zur Willensfreiheit wurde seitens der Verhaltenspsychologie, etwa von Skinner und von Kahnemann, auch die Autonomie als eine Erfindung und Anmaßung angesehen, die letztlich zu Denkfehlern, fehlerhaftem Verhalten und falschen Entscheidungen führten. Durch eine geeignete Verhaltensanalyse und -kontrolle müsse den Menschen demnach „geholfen“ werden, um das Irrationale auszuschalten und sie so "umzuformen". Die politische Umsetzung des „libertären Paternalismus“ ließ nicht lange auf sich warten, und eine staatliche Bevormundung und Missachtung der individuellen Autonomie waren die Folge! 

Das Thema des "freien Willens" wurde bereits von Kant ausgiebig behandelt, und er ging u.a. von einem „a priori“ aus, dass also der sog. kategorische Imperativ unserem Bewusstsein unmittelbar und absolut gegeben sei. Wir sollen nur nach Grundsätzen handeln, die wir auch verallgemeinern und die Allgemeingültigkeit beanspruchen könnten. Der Mensch hat zudem als solcher einen absoluten Wert und darf niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandelt werden. Die Willensfreiheit oder die „Autonomie des Willens“ besteht demnach in der Fähigkeit, sein Handeln nach diesem inneren Gesetz auszurichten, indem der Wille keinem fremden, sondern dem eigenen Gesetz folgt. Es gibt logischerweise einen Unterschied zwischen Handlungen, die von außen erzwungen werden und solchen, die dies nicht sind. Bleibt die Frage, inwieweit die „freien“, „autonomen“ Handlungen nicht doch ebenfalls weitgehend „bedingt“ sind. Kant ging davon aus, dass unser Verhalten zwar einerseits durch empirisch fassbare, physikalische, biologische und andere Faktoren, sowie im Rahmen der Kausalität zu erklären sei, dass es aber darüber hinaus den „intelligiblen“ Bereich der Vernunft gebe, und nur von diesem Standpunkt aus sei der Mensch frei, indem er sich eben über die „Sinnenwelt“ erhebe und von ihr unabhängig mache. „Denn jetzt sehen wir, dass, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens, samt ihrer Folge, der Moralität.“ Das Thema „Freiheit“ stand im Mittelpunkt des Denkens von Kant. Er nannte sie ein „unerhörtes Mysterium“, und das Nachdenken darüber habe ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt. In einem Brief schrieb er: „Der Mensch ist frei und dagegen: es gibt keine Freiheit, alles ist naturgesetzliche Notwendigkeit.“ Will heißen: Wir leben gleichzeitig im Reich der Notwendigkeit und in dem der Freiheit. Als „Erhabenes“ sah er neben dem Sternenhimmel als dem Reich der Notwendigkeit das innere, moralische Gesetz als Reich der Freiheit.

Die Frage des „Determinismus“ wird schon sehr lange kontrovers diskutiert, und letztlich werden wir keine absolut gültigen Erkenntnisse diesbezüglich erlangen. Dass unsere „freien“ Entscheidungen mit größter Skepsis zu beurteilen sind, dürfte aber jedem klar sein, und dieser Umstand sollte nicht nur bei der Frage der Schuldfähigkeit von Belang sein, wobei auch Zwischenstufen bez. der Polarität „voll schuldfähig“ bis „nicht schuldfähig“ zu berücksichtigen wären, sondern auch hinsichtlich der subjektiven Gewissensentscheidung des „Täters“: inwieweit war er sich der „Schuldhaftigkeit“ seines Handelns bewusst, also nicht nur im Hinblick auf die Normverletzung sondern auch auf die persönliche Einschätzung der Tat? Vor 1973 wäre ein „Täter“ wegen eines homosexuellen „Vergehens“ gemäß § 175  angeklagt worden und hätte sich bei der „Tat“ durchaus der Normübertretung bewusst sein müssen. Gleichzeitig hätte er aber auf seine Gewissensentscheidung und das unbedingte „innere Gesetz“ pochen können, die ihm kein schuldhaftes Verhalten attestierten. Schon Sokrates berief sich auf sein Gewissen und stellte es über den Volkssouverän: "Seine Weigerung, dem Volke seine Unterwürfigkeit gegen dessen Macht zu bezeigen, führte die Verurteilung zum Tode herbei." (Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Band I, Leipzig 1982). Heutzutage kann man den § 175 selbst als immoralisch ansehen, da er gegen Grundrechte und die Achtung des Menschen verstößt, wie auch die „Nürnberger Gesetze“ zur „Rassenschande“ im Dritten Reich und die ähnlichen Apartheid-Gesetze in Südafrika. Jemand, der sie übertrat und dafür bestraft wurde, wird im Nachhinein als Held angesehen. Natürlich könnte man einwenden, dass sich theoretisch jeder Straftäter, auch ein Mörder und Erpresser, auf sein Gewissen berufen könnte und es dann schwierig wäre, das Gegenteil zu beweisen. Das Tatmotiv wird aber ohnehin schon berücksichtigt, etwa wenn ein Vergehen „aus niederen Beweggründen“ begangen wurde oder „mildernde Umstände“ vorliegen, wobei diese Begriffe natürlich ebenfalls zu hinterfragen wären und bei einer angenommenen  tatsächlichen Unfreiheit des Willens obsolet wären. Wenn jemand in der Nachkriegszeit Kohlen klaute, um heizen zu können, so wurde dies sogar von hoher kirchlicher Stelle aus als moralisch gerechtfertigt angesehen, woraus dann der Begriff „Fringsen“ entstand. Es waren ja hier offensichtlich keine niederen Instinkte im Spiel, sondern existenzielle Bedürfnisse.

Eine interessante rechtsphilosophische Untersuchung zu dieser Thematik hat Prof. Reinhard Merkel 2008 vorgestellt mit dem Titel „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“. Er unterscheidet dort Willensfreiheit und Handlungsfreiheit. Letztere ist ohnehin begrenzt schon durch die Gesetze der Physik, etwa wenn wir uns in die Luft erheben und womöglich fliegen wollen, ohne Hilfsmittel, macht uns die Schwerkraft einen Strich durch die Rechnung. Es soll zwar „Levitationen“ gegeben haben, aber es handelte sich wohl „nur“ um mystische Erfahrungen. Man sagt ja auch, „jemand hebt ab“, in einem „Höhenflug“ der Gedanken und Gefühle. Merkel kommt zu dem Schluss, dass es wohl so sein mag und er auch dahin tendiere, dass die Willensfreiheit oder besser Entscheidungsfreiheit oder Selbstbestimmung nur eine Illusion ist und man mit andern Philosophen zu dem Schluss kommen könne, die Willensfreiheit bleibe ein Mysterium. Zu lösen sei aber das Problem der Normverletzung und deren „Reparatur“, ohne die eine rechtsstaatliche Gesellschaft nicht auskommen könne, solange nichts Besseres gefunden wird. „Das Strafrecht institutionalisiert die reaktiven Einstellungen der Rechtsgemeinschaft auf den Bruch ihrer grundlegenden Normen.“ Ein rein präventives Strafrecht wäre insofern nicht ausreichend, also wenn man den Täter nicht als schuldig, sondern „nur“ als krank und behandlungsbedürftig ansähe. Ohne die Sanktion und somit die Bestrafung komme man folglich nicht aus. Man müsse aber den § 20 des Strafgesetzbuches, der die Umstände der Schuldunfähigkeit regelt, dahingehend ändern, dass die Voraussetzungen der normalen Schuldfähigkeit, die im Wortlaut des Paragraphen nur erschließbar sind, dahingehend neu formuliert werden, dass der Täter zum Tatzeitpunkt „normativ ansprechbar“ gewesen war, im Gegensatz etwa zu einem Geisteskranken, der tatsächlich als schuldunfähig anzusehen und somit nicht zu verurteilen sei. Merkel räumt ein, dass Normschutzerwägungen utilitaristischer Provenienz seien, aber dies wäre angesichts des hohen Stellenwerts der Sicherung der Normenordnung für unser Gesellschaftssystem gerechtfertigt. Der Staat sei der Garant der Normgeltung und einer Friedensordnung zwischen seinen Bürgern. Anders gesagt: die Menschen müssen versuchen, sich mittels des Strafrechts voreinander zu schützen. Dass ein Gesetz zur Farce werden und die Autorität des Staates schwächen kann, konnte man zur Zeit der Prohibition in den USA beobachten. Es war die Zeit der „Gesetzesspötter“, denn es wurde sogar illegal Alkohol ins Weiße Haus geliefert, und die Mafia konnte sich freuen über sagenhafte Gewinne!  

Der eher indeterministisch und kompatibilistisch (Willensfreiheit und Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Schuld wird als kompatibel mit einer möglicherweise deterministischen Weltordnung angesehen) orientierte Psychiater und forensische Gutachter Prof. Hans-Ludwig Kröber drückt es in Anlehnung an Kant so aus: „Wir sind strafrechtlich verantwortlich, wenn wir imstande sind, unsere Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen, wenn wir also imstande sind, unsere Wünsche kritisch zu bewerten.“ Der Begriff „Verantwortung“ bringt nun noch ganz andere Implikationen mit sich, über die man natürlich nachdenken sollte und die man nicht einfach beiseite schieben darf. Ein schöner Satz hierzu lautet: „Es wird uns nicht zugerechnet, weil wir frei sind, sondern wir sind frei, weil uns zugerechnet wird.“ Einigung kann vielleicht erzielt werden, wenn man von einer „praktischen“ Verantwortung spricht.  Zumindest das bewusste und nicht psychotische und nicht durch einen übermächtigen Affekt überwältigte Ich kann sinnvollerweise und aus "taktischen" Gründen für sein Handeln verantwortlich gemacht werden, selbst wenn es letztlich gar nichts dafür kann. Auch in der Politik trägt letztlich der Ressortchef die Verantwortung für Dinge, die in seinem Ministerium „verbockt“ worden sind, und muss die Konsequenzen tragen, auch wenn er selbst nicht direkt „schuldig“ sein mag. Die Verantwortlichkeit für unser Handeln ist ein Grundprinzip der Erziehung und impliziert auch die Verantwortung für sich selbst. Dieses ethische Prinzip scheint ein Grundpfeiler unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu sein und muss wohl unabhängig von der Frage der Willensfreiheit und Schuld betrachtet werden. Ausführlich hat sich u.a. der Philosoph Michael Pauen mit der Thematik in mehreren interessanten Büchern auseinandergesetzt, zum Beispiel in „Illusion Freiheit?“ (2005). Der wissenschaftliche „Determinismus“ und das Kausalitätsprinzip gerieten ins Wanken durch die Erkenntnisse der Quantenphysik, da die Position von subatomaren Teilchen vollständig indeterminiert und zufällig ist. Einstein, der die Erkenntnisse Heisenbergs nicht leugnete, meinte aber bezüglich der Übertragung auf das Thema Willensfreiheit, falls der Mond ein Bewusstsein hätte, wäre er überzeugt, er ziehe seine Bahn auf eigene Faust, auf der Grundlage einer Entscheidung, die er ein für alle Mal getroffen habe. Ein Wesen, begabt mit höherer Intelligenz und Einsicht, das die Menschen und ihr Tun beobachtete, „würde lächeln über ihre Illusion, sie handelten im Einklang mit ihrem eigenen freien Willen.“ Das Problem bei all unserem Nachdenken über unseren eigenen „Geist“, über unser Bewusstsein und unser „Ich“, ist der Umstand, dass wir sozusagen „befangen“ sind, im System der Untersuchung selbst drinstehend und somit wohl auch nicht in der Lage, es in all seinen Implikationen verstehen zu können. Der Umstand, dass wir uns selbst einen freien Willen zuschreiben, ist unbestreitbar ein wichtiger Aspekt unseres menschlichen Selbstverständnisses, und nur er gibt dem moralischen Denken einen Sinn. Benjamin Libet (1999) zitiert den Romancier Isaac Bashevis Singer: “Das größte Geschenk der Menschheit ist die freie Wahl. Es ist richtig, dass wir beim Gebrauch dieser freien Wahl begrenzt sind. Aber das wenige an freier Wahl, das wir haben, ist ein solch großes Geschenk und ist potentiell so viel wert, dass es sich lohnt, gerade dafür zu leben.“ Schon in der Schöpfungsgeschichte wird ja die freie Wahl als ein besonderes Geschenk Gottes an den Menschen dargestellt, indem er vom Baum der Erkenntnis zwar nicht essen darf, es aber kann. Und die Schlange lockt mit dem Versprechen „Ihr werdet sein wie Gott und wissen was gut und böse ist!“ Der „Sündenfall“ und die „Schuld“ sind demnach nicht möglich ohne die Freiheit. Rüdiger Safranski meint diesbezüglich in seinem Buch „Das Böse“ (1997), die Geschichte habe so gesehen angefangen als Strafe und sei etwas, wozu man verurteilt werde. An anderer Stelle („Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“ 1993) weist er darauf hin, dass es einerseits den Blick von außen auf unser Handeln gibt, der nach den Gesetzen der Kausalität erfolgt, und andererseits die „innere Erfahrung“: „Im Augenblick der Entscheidung, es ist der Augenblick der Freiheit,  ist jeder auf eine abgründige Weise unbestimmt und muss sich selbst bestimmen.“ Es sei die Angst vor der Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung, die uns bereitwillig annehmen lässt, wir seien gar nicht frei. Freiheit habe auch mit der Suche nach Wahrheit zu tun. Wenn man sich eingestehe, dass bei jeder Wahrheitsfindung und bei jeder Wertentscheidung Freiheit im Spiel ist, dann werde man entdecken, dass in uns selbst eine wahrheitsbildende Kraft vorhanden ist, und das bedeute auch, dass man sich nicht mehr auf eine absolute Wahrheit berufen kann, was ebenfalls beängstigend ist. Das angeblich Wahre, das wir als unwahr erkannt haben, ist doch auf eine gewisse Art und Weise "wahr" oder zumindest seelisch wirksam! Die Frage der Willensfreiheit gehört wohl zu denen, auf die es letztlich keine Antwort geben wird, und sie wäre in ihrer Rätselhaftigkeit einer Sphinx durchaus würdig. 

Neuere Forschungen (Kathleen D. Vohs and Jonathan W. Schooler: “The Value of Believing in Free Will.” 2008)  haben gezeigt, dass Versuchspersonen, denen vorher eingeredet wurde, dass es keinen freien Willen gäbe, sich anschließend  „unverschämter“ verhielten als eine Kontrollgruppe und gemogelt haben. Es scheint so zu sein, dass Menschen zumindest die Überzeugung einer vorhandenen Willensfreiheit benötigen oder dass diese hilfreich ist.

C. G. Jung hat darauf hingewiesen („Die Dynamik des Unbewussten“ 1995), dass es keinen Bewusstseinsvorgang gibt, der nicht in einer anderen Hinsicht unbewusst wäre, und daraus kann man schließen, dass auch unser Verhalten immer von unbewussten Einflüssen zumindest mitbestimmt wird, in unterschiedlichem Ausmaß. Er spricht von einer „relativen Freiheit“, die einfach dadurch gegeben ist, dass der Mensch im Laufe seiner Evolution zu einem bewussten Lebewesen wurde, eine prometheische Errungenschaft, und er dadurch die Möglichkeit erhielt, sich auch gegen seine Instinkte und die Archetypen zu entscheiden, sowie im weiteren Sinn auch gegen die kollektive Richtschnur. Der im biblischen Bericht vom Sündenfall beschriebene Akt der Erkenntnis und der dadurch gegebenen Unterscheidungsfähigkeit zwischen Gut und Böse vermittelt in symbolischer Form diesen Entwicklungsschritt und das dadurch aufgekommene Schuldbewusstsein. Gleichzeitig erhielt der Mensch somit quasi göttliche Eigenschaften: „Ihr werdet sein wie Gott!“ Die Selbstbehauptung impliziert, dass wir uns wie Luzifer auch gegen die Gottheit entscheiden können, und somit sind wir verschieden von ihr und „schuldig“. In „Aion“ (1976) weist Jung aber gleichzeitig darauf hin, dass manche unserer Entscheidungen derart instinktgesteuert seien, dass sie wie Naturkräfte („Acts of God“) anzusehen sind, und nur nachträglich, um den Eindruck einer moralischen Niederlage zu vermeiden, vom bewussten Ich als freie Willensentscheidung hingestellt werden. Der Sozialpsychologe John Bargh ("Vor dem Denken", 2017) verweist diesbezüglich auf bestätigende Forschungsergebnisse, auf unsere Wünsche, Ziele und Bedürfnisse, sowie das damit verbundene Belohnungszentrum im Gehirn, bei dessen Aktivierung wir uns auch auf riskantes, gefährliches oder gar schädliches Verhalten einlassen. Wir sollten vorsichtig sein hinsichtlich unserer Wünsche, "denn sie können, ohne dass es uns bewusst wäre, die Macht über uns übernehmen.“ Diese Kräfte zu kontrollieren, gelingt also nur bedingt. Man kann sie unterdrücken, aber sie kommen dann an anderer Stelle und in veränderter Form zurück: In verwandelter Gestalt üb' ich grimmige Gewalt.“ (Faust II). Dann jedoch belastet mit einem Ressentiment, und so kann die an sich harmlose Naturkraft zu unserem Feinde werden. Die individuelle Willensfreiheit reicht demnach nur bis an die Grenzen unseres persönlichen Ich-Bewusstseins. In seinen „Erinnerungen“ schreibt Jung: „Man ist ein psychischer Ablauf, den man nicht beherrscht, oder doch nur zum Teil.“ Er meinte, dass „gut“ und „böse“ nichts Absolutes seien, sondern etwas Relatives, dass sie aber als moralische Kategorien und Urteile durchaus existieren und psychologisch wirksam sind. Jenseits des Menschen verlieren sie allerdings ihre Bedeutung. Selbst wenn wir uns hinsichtlich der moralischen Bewertung unsicher sind, müssen wir uns doch ethisch entscheiden, wobei wir auf unser Unbewusstes und unser innerstes Wesen hören sollten: „Aber man muss, so hart es klingen mag, die Freiheit haben, das bekannte moralisch Gute unter Umständen zu vermeiden und das als Böse anerkannte zu tun, sollte es die ethische Entscheidung verlangen.“ Und: „Die Kraft des Lebens liegt jenseits des moralischen Urteils.“ Es handelt sich um jene schicksalbestimmende Kraft, welche die Individuation erzwingt. Hinsichtlich der psychologischen Typen wird der extravertierte Empiriker, dem Prinzip der Kausalität folgend, eher deterministisch eingestellt sein, während der Introvertierte die innere Freiheit und Unabhängigkeit bejahen wird, was ihm gleichzeitig ein enormes Machtgefühl verleiht. Jung weist auch darauf hin, dass wir im Affektzustand unfrei sind, getrieben und genötigt von innen, im Normalzustand hingegen frei. Problematisch sei nur der Normalzustand, wegen der Möglichkeit der freien Wahl. Nicht in einem Normalzustand waren die Teenager, die 2011 den 15 Jahre alten Seath Jackson in Florida in eine Falle lockten, ihn schlugen, erschossen und dann verbrannten, um anschließend rund ums Feuer sitzend zu feiern. Unklar blieb, ob Jacksons ebenfalls fünfzehnjährige Ex die treibende Kraft war oder deren neuer Freund. Es gab eine Todesstrafe und lebenslange Haftstrafen ohne Bewährung. Wohl niemand erkannte, dass es sich um die unbewusste Inszenierung eines archaischen Opferrituals handelte. Von einer archetypischen Vorstellung besessen handelten die Jugendlichen in einem rauschartigen Zustand. Ein vollstrecktes Todesurteil ist ebenfalls eine archaische Opferhandlung. Allgemein wurde die Tat als besonders grausam und unmenschlich verurteilt, was in der Serie „Killer Women“ von Piers Morgan deutlich zum Ausdruck kommt. Niemand hätte Verständnis dafür gehabt, hier das jugendliche Alter und den Ausnahmezustand, in dem sich die Protagonisten zweifellos befanden, in Betracht zu ziehen.  

Auf alle Fälle sollte man das „non liquet“ (nicht aufgelöst oder nicht klar) in dieser Angelegenheit berücksichtigen und damit gleichzeitig das „in dubio pro reo“. Auch Anja Schiemann hat im Jahr 2012 in ihrer Untersuchung „Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen“ auf die Problematik hingewiesen, wieder mit anderen Akzenten. Strafrechtler sollten jedenfalls aufgrund eines verbleibenden Unbehagens nicht ohne Schuldgefühle sein. Sie waschen sich ja auch die Hände in Bezug auf die Umsetzung der Sanktionen im Strafvollzug, dessen Geschichte Michel Foucault in seinem Werk „Überwachen und Strafen“ eindrucksvoll dargestellt hat. Hieß es früher, die Rechte und die Integrität des Souveräns seien durch die Gesetzesübertretung verletzt worden und müssten durch die Bestrafung wieder instand gesetzt werden, so ist es heute die „Rechtsgemeinschaft“, die dies verlangt. Im Zuge der Aufklärung wollte man eine Reform des Strafvollzuges durchführen, und zwar im Sinne einer angemessenen und sinnvollen Sanktion, also etwa die Wiedergutmachung eines Schadens oder eine Dienstleistung für die Gemeinschaft. Jede Tat und jeder Täter sollten demnach spezifisch beurteilt und verurteilt werden. Aus praktischen Erwägungen wählte man aber zumindest für schwerere Vergehen den Freiheitsentzug in einem Gefängnis oder Zuchthaus, und auch das fortdauernde Bemühen um eine Strafvollzugsreform hat nichts daran geändert, dass sich dort ein von den Gerichten weitgehend unabhängiger Bereich von „despotischer Disziplinierung“ (Foucault) eingerichtet hat. Inzwischen wurde insbesondere in den USA, zum Beispiel vom Sozialwissenschaftler Loic Wacquant gezeigt, dass die Strafjustiz darüber hinaus ein politisches Instrument darstellt, mit dem  unterprivilegierte Bevölkerungsschichten diszipliniert und allgemeine Verunsicherungen abgebaut werden sollen. Dies ist die letzte Bastion des Staates, um sein Machtmonopol zu demonstrieren! Im Jugendstrafrecht versucht man immerhin hierzulande, den Freiheitsentzug etwa durch die Ableistung von Arbeitsstunden zu ersetzen, zumal man längst erkannt hatte, dass die Gefängnisse zumindest keine Besserung der Täter herbeiführen. Mit ein wenig Phantasie wird man es vielleicht schaffen, die verschiedenen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, auch den Schutz der Bevölkerung vor wirklich gefährlichen Tätern, der aber ebenfalls immer nur bedingt möglich sein wird, um so einen einigermaßen humanen und sinnvollen Strafvollzug einzurichten und vielleicht auf Bestrafung ganz zu verzichten, was wiederum den Begriff „Strafvollzug“ obsolet machte. Die „staatliche Anerkennung des Unbewussten“ wird aber wohl noch auf sich warten lassen, schon aus dem Grund, dass die Feststellung, wir seien eigentlich nicht wirklich „Herr im Haus“, eine narzisstische Kränkung darstellt, ähnlich der Erkenntnis von Darwin, dass der Mensch lediglich eine höher entwickelte Tierart sei. Dies gilt auch für die Bevölkerung insgesamt, die aufgrund des vorherrschenden „Gerechtigkeitsgefühls“ sowohl empört reagieren wird, wenn Unschuldige verurteilt werden oder wenn „Normale“ in die Psychiatrie eingewiesen werden (der Fall Gustl Mollath!), als auch wenn „Schuldige“ freigesprochen werden. Letzteres hängt dann mit der Angst vor eigenen Triebdurchbrüchen zusammen. Wenn der andere damit durchkommt, dann kann ich es auch tun! Über den Aspekt der Abschreckung und Prävention wurde hier nicht weiter eingegangen, aber man weiß, dass zum Beispiel die Todesstrafe nicht die erwünschte Abschreckungswirkung erzielt, und dies gilt möglicherweise auch für andere Strafandrohungen. Der Abschreckungsgrundsatz (Generalprävention) sollte ohnehin nur noch sehr eingeschränkt angewendet werden, und zwar lediglich dann, wenn zuvor bereits eine „gemeinschädliche“ Zunahme gleichartiger Straftaten zu verzeichnen war. Auch das Prinzip der „Spezialprävention", das auf den einzelnen Straftäter abzielt, rechtfertigt Gefängnisstrafen nicht wirklich. Ein junger Gefängnisdirektor hat aufgrund seiner Erfahrungen ein Buch veröffentlicht, in dem er für die Abschaffung der Gefängnisse plädiert. (Thomas Galli: „Die Schwere der Schuld. Ein Gefängnisdirektor erzählt.“ 2016) Und Kai Schlieter zeigte in seiner Recherche „Der Knastreport“ (2011), in welchem Ausmaß im Strafvollzug Willkür und Renitenz gegenüber von Gerichtsbeschlüssen, sogar höchstrichterlichen, immer wieder an den Tag gelegt wird. Von Respekt gegenüber der Menschenwürde und effizienter Resozialisierung ist zudem wenig zu spüren!

Noch ein Wort zu den forensisch-psychiatrischen Gutachtern, und das hier Ausgeführte gilt analog für sonstige psychiatrische und psychologische Gutachter, und zwar hinsichtlich von mutmaßlichen oder tatsächlichen Straftätern. Falls es sich um Ärzte handelt, können sie sehr schnell in einen Konflikt geraten zwischen ihrem ureigentlich ärztlichen Auftrag, Leben zu erhalten und die Gesundheit der ihnen anvertrauten Menschen zu fördern (entsprechend dem Hippokratischen Eid), und dem Auftrag eines Gerichts, bezüglich eines solchen Menschen Fragen zu beantworten, wobei dies meist von existenzieller Wichtigkeit für den Betroffenen ist und seiner Gesundheit und seinem Leben u. U. sehr schaden kann. Es besteht die Gefahr, dass der Gutachter, oft in gewisser Weise abhängig von den Aufträgen der Gerichte, von deren Erwartungen mehr oder weniger unbewusst geleitet wird und diese auch verinnerlicht hat. In einer Art von höherer „Staatsräson“ neigt er dann dazu, nicht mehr den individuellen menschlichen und gesundheitlichen Aspekt vordergründig im Auge zu haben, sondern irgendwelche Prinzipien, die angeblich dem großen Ganzen dienlich sein sollen. Knifflig wird es in der Tat, wenn die Bedürfnisse des Probanden abgewogen werden müssen gegen den Anspruch der Gesellschaft, vor wirklich gefährlichen Straftätern oder psychisch Kranken geschützt zu werden. Dabei wird der Arzt Angst haben, bei einer im Nachhinein sich als fehlerhaft erweisenden Empfehlung seine Reputation zu verlieren und wird entsprechende Vorsicht walten lassen, oft zum Nachteil des Betroffenen. Er wird sich vielleicht auch von seiner persönlichen Verantwortung zu entlasten suchen, indem er darauf verweist, dass letztlich ja die Gerichte entscheiden und er nur Empfehlungen ausspricht. Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass die Gerichte de facto den Gutachtern meist sehr willig Folge leisten, da sie selbst wiederum ihre Verantwortung zumindest teilweise auf den Gutachter abschieben können. Schwierig wird es allerdings, wenn mehrere Gutachten vorliegen, die sich widersprechen, was nicht überraschen sollte, da Kriminalprognosen eher Kaffeesatzleserei als wirklich wissenschaftlich begründbare Voraussagen sind (siehe hierzu die Studie von Michael Alex von 2010). Tatsächlich verfügen die Gutachter dennoch über sehr viel Macht, die sie vielleicht allzu gern ausüben und auskosten. So können unbewusste sadistische Tendenzen und Bedürfnisse nach Beherrschung von Menschen ungestraft befriedigt werden, und das Ganze wird auch noch mit einer beträchtlichen Vergütung und hohem gesellschaftlichen Ansehen belohnt. Das Gleiche gilt übrigens auch für Richter und Staatsanwälte (siehe: „Der Verbrecher und seine Richter. Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen“ von Franz Alexander und Hugo Staub, 1929). Man sollte in diesem Zusammenhang immer an die mehr als zweifelhafte  Rolle von vielen Ärzten, Psychiatern und Richtern im „Dritten Reich“ denken. Allzu leicht wurden sie zu „Staatsbütteln“ oder gar Vollstreckern und schoben ihre Verantwortung von sich. Auch der Begriff des „Befehlsnotstands“ gehört hierher.  

 

„Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!“

  (Matthäus 7,1)

 

Kastrationsangst und Angst vor Zerstückelung

 

Beide sind miteinander verbunden, und Ersteres ist nur eine Sonderform des Zweiten. Neueste psychologische Forschungen haben gezeigt, dass die körperliche Unversehrtheit ein sehr starkes Motiv ist, und dass die unbewusste Aktivierung der entsprechenden Gehirnzentren unser Verhalten in vielerlei Hinsicht beeinflusst (siehe John Bargh „Vor dem Denken" 2017). Wenn Donald Trump große Angst vor Krankheitskeimen hat und nur sehr ungern Hände schüttelt, so ist dies ebenso eine Folge dieser Urangst vor Verletzung wie alle Arten von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Stellte doch in früheren Zeiten der Unbekannte meist eine Bedrohung dar, und nur die eigene Gruppe war einigermaßen vertrauenswürdig.

Tiefenpsychologisch gesehen handelt es sich letztlich um die Angst vor dem Tode, vor der Vernichtung. Sigmund Freud sah die Kastrationsangst im Zusammenhang mit dem Ödipuskomplex, der beim Jungen dazu führt, dass er sich vor der Bestrafung durch den Vater fürchtet, weil er die Mutter begehrt und für sich haben will. Beim Mädchen entstehe sie dadurch, dass sie das Fehlen eines Penis unbewusst als die Folge einer Kastration ansehe. 

Jacques Lacan entwickelte die Freudsche Theorie weiter und bezeichnet die „Kastrationsdrohung“, der das Kind sich ausgesetzt fühlt, als „Nein-des-Vaters“ (Wikipedia). Dieses Nein kann sowohl vom Vater selbst als auch von anderen Personen „Im-Namen-des-Vaters“ ausgesprochen werden. Da für Lacan der Name-des-Vaters auch die Gesetze der Gesellschaft repräsentiert, gehört der „Kastrationskomplex“ der symbolischen Ordnung an. Durch das Nein des Vaters wird das Kind in die symbolische Ordnung der Gesellschaft und der Gesetze eingeführt. Lacan bezeichnet die Kastration, die ja meist nur eine angedrohte bleibt, und die mit dieser Drohung einhergehende Hinwendung zum Symbolischen, deshalb auch als „symbolische Kastration“. Mit dem Eintritt ins Symbolische geht die Kastrationsangst teilweise auf das durch den Vater repräsentierte Symbolische selbst, den „großen Anderen“ über. Sie wäre also auch Ausdruck der Angst vor Autoritäten, vor der Staatsmacht und letztlich vor Gott. 

Erich Neumann („Ursprungsgeschichte des Bewusstseins“ 1974), ein Jungianer, versteht die Kastrationsangst nicht nur als Beiwerk der ödipalen Triangulation, sondern als ursprünglich verbunden mit dem Archetypus der „furchtbaren Erdmutter“, die zur Befruchtung das Blut, den zerstückelten Körper und den Phallus des „Sohngeliebten“ als Opfer einfordert. Nur so wird neues Leben möglich, durch das Sterben und die Wiederauferstehung oder Wiedergeburt.  Das Thema der Zerstückelung taucht in der Mythologie immer wieder auf, etwa bei Dionysos, und hat eben mit Opferung, Tod und Neugeburt zu tun. Uranos, der Himmel in Göttergestalt, von Gaia ohne Begattung hervorgebracht, verbannte alle seine Kinder in den Tartaros, was Gaia erzürnte. Sie war es, die den Titanen Kronos anstiftete, mit dem „grauen Stahl“, einer gewaltigen Sichel, den Vater zu entmannen. Aus dessen Blutstropfen entstanden u. a. die drei Erinnyen (Furien). Seither verfolgen die Erinnyen jede Verletzung mütterlicher Ansprüche, selbst wenn diese nicht gerechtfertigt sind. Aus dem Samen des abgetrennten und ins Meer gefallenen Geschlechtsteils entstand die Liebesgöttin Aphrodite, die Schaumgeborene. Aufgrund der Kastration entstand also Gutes und weniger Gutes! Die Geschichte hat allerdings nur vordergründig mit der Kastration zu tun, denn symbolisch geht es letztlich um die Trennung zwischen Himmel und Erde, einem weit verbreiteten Mythologem.  

Es handelt sich um die matriarchale Frühstufe des „Großen Weiblichen“ oder des „Großen Runden“, dem „Ouroboros“, der sich selbst in den Schwanz beißenden Schlange, sowie mit der Entmannung und Zerstückelung des Sohngeliebten, dessen Blut und dessen Phallus die große Erdgöttin befruchten müssen, um neues Leben hervorzubringen. Es geht um den archetypischen Opfermythos, der in der Vorzeit dazu führte, dass Blutopfer, auch Menschen- und Kinderopfer vollzogen wurden. Reste davon finden sich in Beschneidungs- und Genitalverstümmelungsriten. Kriege sind ebenfalls  eine Aufrechterhaltung dieser Opferrituale bis in unsere Zeit! Innerpsychisch kommt die Bedrohung jeweils aus dem Unbewussten, und ihm wird vom bewussten Ich das Opfer dargebracht, in der Form der Hingabe, der Selbstdarbringung. Im Verlauf der Entwicklung gibt es eine weitere Art der Kastration, eine phallisch-chthonische, wobei es auch zur Selbstentmannung kommen kann („Eunuchen für das Himmelreich“ Mt. 19,12), und schließlich noch eine „obere Kastration“, die mit dem oberen, „solaren“ Männlichen zu tun hat und mythologisch mit dem Verlust der Haare oder mit der Blendung dargestellt wird. Die Überwindung der Kastrationsangst ist gleichzusetzen mit der Überwindung der Mutterherrschaft.

All das hat wenig zu tun mit der ödipalen Triangulation, sondern eher mit der ursprünglichen Vorherrschaft des Weiblichen, des Unbewussten, der „Großen Mutter“, mit der Trennung von Erde und Himmel, sowie mit der Entstehung des Bewusstseins, des höheren Geistigen, Männlichen. Man könnte also die Angst vor der Kastration letztlich als Angst vor der Überwältigung durch das Unbewusste ansehen, als Angst vor dem „Seelenverlust“, vor dem „Seelentod“. Vor diesem Hintergrund muss man auch den Geschlechterkrieg und den Feminismus ganz neu überdenken. Die Bedrohung der Frau kommt nicht von der angeblichen Vormachtstellung des Mannes oder vom „Penisneid“, sondern von der Bedrohung durch einen möglichen Einbruch des Unbewussten, der wiederum letztlich mit der Angst vor der furchtbaren Erd- und Todesmutter zu tun hat, und dies gilt genau so für den Mann. Manche Frau wird meinen, dass so etwas nur von einem Mann stammen könne. Es sei eine elegante Art und Weise, das Problem vom Tisch zu bekommen und aufzulösen oder gar den Spieß herumzudrehen. Aber darum geht es nicht! Das ist keine politische Überlegung und hat mit der tatsächlichen Benachteiligung von Frauen, die es natürlich unbedingt zu beseitigen gilt, nur am Rande zu tun. Es geht um hypothetische unbewusste Vorgänge, deren Aufhellung vielleicht zu einem kreativeren Umgang mit den manifesten Konfliktzonen zwischen den Geschlechtern führen könnte! Die ursprüngliche Vorherrschaft des Weiblich-Mütterlichen und damit des Matriarchats, wurde mit der Zeit abgelöst durch das Patriarchat. Ein notwendiger Vorgang, um die Dominanz des Unbewussten zu überwinden, aber auch ein Zeichen der Angst vor einer erneuten Überflutung und Überwältigung durch das Unbewusste. Die Geschichte von der Sintflut hat symbolisch damit zu tun, ungeachtet der von der Menschheit tatsächlich erlebten Flutkatastrophen. Inzwischen hat sich, wie bereits dargelegt, die Situation verschoben. Eine Überbewertung des Geistig-Männlichen hat zu einer Vernachlässigung oder gar Leugnung des Unbewussten geführt. Hier wäre ein Umdenken dringend nötig! Die Analytische Psychologie setzt in Anlehnung an C. G. Jung den Schwerpunkt auf die Individuation, also eine gelungene Integration des Unbewussten ins Bewusstsein und damit eine Re-Zentrierung und Vervollständigung des Selbst. Das hört sich einfach an, ist aber mit erheblichen Mühen und einer langen Wegstrecke verbunden. Es handelt sich um einen Reifungs- und Entwicklungsprozess, den viele Menschen erst gar nicht oder kaum in Angriff nehmen. Sie werden dadurch auch eher zum Spielball von archaischen Ängsten, Antrieben und kollektiver Verblendung. Frauen und Männer sollten also nicht gegeneinander kämpfen, sondern miteinander, hin zum höheren, großen, ganzheitlichen Menschen, dem Anthropos. Wir haben alle dieselbe große Aufgabe: uns weiterzuentwickeln, zu uns selbst zu finden durch die Begegnung mit uns selbst und mit dem andern, und uns auf den unausweichlichen Tod vorzubereiten. Natürlich gibt es noch viele andere wichtige Aufgaben zu bewältigen, kleinere und größere. Eine Welt zu schaffen und zu erhalten, in der es sich lohnt, zu leben und in der es möglichst allen gut geht, und nicht nur einigen wenigen Privilegierten. Eine Welt ohne Ungerechtigkeiten, Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und Folter.  

Die Angst vor Zerstückelung oder Fragmentierung wurde speziell von Heinz Kohut theoretisch eingearbeitet in seine Selbstpsychologie, einer Weiterentwicklung der freudschen Psychoanalyse. Er unterscheidet sie von der Kastrationsangst und sieht entwicklungspsychologisch einen Beginn im frühen Säuglingsalter. Die Angst vor der Fragmentierung betrifft die Identität und die Aufrechterhaltung eines sich vom Nicht-Ich unterscheidenden und vereinten Selbst, was durch die Angst vor der Zerstörung seines eigenen Körpers oder seiner eigenen Psyche zum Ausdruck kommt. Ein Fragmentierungsprozess könne eintreten im Falle eines destruktiven Umgangs der Beziehungspersonen mit dem Kind und sei als ein Schutzmechanismus zu verstehen, um einen Zerfall, eine Auflösung des Selbst zu verhindern, der zur Psychose führen könnte. Dieser Prozess könne deshalb auch als eine Abwehrform und eine Überlebensstrategie angesehen werden. Das Selbst fühle sich in seinem Kern bedroht und entwickle in der Folge Selbstfragmente, sowohl auf der Erlebens- als auf der Handlungsebene, die nach außen als Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten in Erscheinung treten. In der Therapie gelte es, diese fragmentierten Selbstanteile als Anpassungsleistung zu verstehen und auf eine Integration hinzuarbeiten (Karl-Heinz Brisch: "Bindungstraumatisierungen: Wenn Bindungspersonen zu Tätern werden." 2016).

Angst ist nicht nur etwas Schlechtes, außer sie nimmt überhand und lähmt uns, schränkt uns übermäßig ein, macht uns duckmäuserisch. Sie hat Signalwirkung, soll uns vor Gefahren warnen oder uns auf ungelöste innere Konflikte aufmerksam machen. Sie kann ein Antrieb sein, sich nach innen zu wenden, um die scheinbar irrationalen Ängste, etwa vor Spinnen, besser zu verstehen. Das Symbol ist ein erster Fingerzeig aus dem Unbewussten und weist uns den Weg: S. Freud sah die Spinne als Symbol des weiblichen Genitales. Sie könnte also mit der Sexualität zusammenhängen, mit dem Weiblichen. Das Spinnen hat aber auch zu tun mit dem Schicksal: es gibt die Große Weberin, die unseren Schicksalsfaden spinnt. Eine der Moiren schneidet den Faden irgendwann ab, auch ein Kastrationssymbol. Spielt also die Angst vor der Zukunft eine Rolle und vor dem, was sie für uns bereit hält, auch das Ende? Die "alte Spinnenfrau" spielt eine wichtige, positive Rolle in indianischen Schöpfungsmythen und Märchen, etwa bei den Hopi. Die Spinne ist ein Gliederfüßler, der Fallen stellt und Insekten einfängt mit einem kunstvoll gewobenen Netz. Sie hat einen Giftstachel, mit dem sie das Opfer lähmt und tötet, bevor sie es aussaugt, wie ein Vampir. Weckt die Spinne also Ängste, in eine Falle zu tappen, sich zu verstricken in etwas Unausweichliches? Gelähmt und getötet, ausgesaugt zu werden? Ängste, die wohl in jeder Liebesbeziehung mit eine Rolle spielen, da wir in ihr einen Teil unserer Autonomie aufgeben, vor allem beim Liebesakt. Dazu passend die Fantasie von den Spinnenweibchen, die das Männchen nach der Begattung auffressen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan! 

In Träumen kann das Kastrationsthema in ganz unterschiedlicher Form auftreten. Die Gefangenschaft etwa gehört wie der Verlust der Haare und die Blendung (Ödipus, Simson, Horus) symbolisch zur „oberen Kastration“ und hat mit dem „oberen Männlichen“ zu tun, wie bereits erwähnt. Sie ist meist nichts Endgültiges, sondern endet mit der Befreiung und dem Sieg!

Abgeschlagene, abgetrennte Körperteile, jede Art von Verstümmelung und Zerstückelung, Unfälle gehören hierher. Hundebisse und sonstige Angriffe durch Tiere mit scharfen Zähnen. Freud bezeichnete Träume vom Verlust eines Zahnes als typische Kastrationsträume. Zahnarztträume sah er als Ausdruck homoerotischer Wünsche, aber ich vermute, dass sie meist Kastrationsträume sind. Aus akutem Anlass und einem schmerzenden und mehrfach behandelten Zahn ging es bei mir in einem eigenen Traum zum Beispiel darum, dass ich mit einem schmerzenden und wackeligen Zahn zum Zahnarzt ging. Als ich diesen Traum meinem damaligen Therapeuten erzählte, wurde ich an dieser Stelle schon unterbrochen,  und er meinte, dass nun er den Zahn ziehen sollte. Ich hatte den Traum nämlich teilweise bereits selbst gedeutet und den Zahnarzt mit dem Therapeuten gleichgesetzt. Aber der Traum verlief ganz anders! Ich hatte mir den Zahn selbst gezogen und zeigte ihn dem Zahnarzt (Therapeuten). Der meinte dann, er könne das schon hinkriegen und den Zahn wieder einsetzen. Dahinter steckte also der Wunsch, der Therapeut könnte mir dabei helfen, das Problem zu lösen. Die Frage war, ob dies darin besteht, den Zahn zu ziehen oder darin, ihn wieder einzusetzen. Im Traum war es das Wiedereinpflanzen, also die Reparatur, nicht aber die radikale Lösung!

Träumt man davon, dass in der eigenen Wohnung oder im Haus Schäden entstanden sind, so hat dies meist auch mit unserem Thema zu tun, da es sich um Selbstsymbole handelt. Fahrzeuge sind oft phallische Symbole, aber auch Libido- (Libido im Sinne von psychischer Energie) und Selbstsymbole. Kommen Fahrzeuge also abhanden oder werden beschädigt, fehlen Teile, so verweist dies auf Kastrationsängste. In einem meiner Träume ging es um mein Auto: Ich parke, steige aus, und plötzlich verwandelt sich der Wagen in ein Moped. Beim Schließen des Benzinhahns fällt dieser runter, und ich befürchte, dass er ins Wasser nebendran fällt, was aber nicht passiert. Dann sehe ich zwei Jungen, die einen schweren Stein auf ein Auto zurollen und dessen Tür beschädigen. Ich laufe ihnen hinterher und sage, dass ich ihre Eltern informieren werde, aber sie versuchen, mich zu überzeugen, dies nicht zu tun. Ich zögere und denke an einen sehr strengen Vater, der sie misshandeln könnte. Und dass der entstandene Schaden von der Versicherung bezahlt werde.

Es gab Zeiten ohne Auto in meinem Leben. Erst war es lange das Fahrrad in der Jugendzeit, dann das Moped oder kleinere Motorräder. Im Traum findet also eine Rückkehr in die Vorautozeit statt, und ich muss mich wieder mit dem Benzinhahn befassen, der natürlich ein schönes Symbol für das Genitale ist, zumal er hier auch noch abfällt. Er soll nicht ins Wasser fallen, was vordergründig aus Umweltgründen motiviert sein könnte, symbolisch aber mit der Welt des Mütterlichen zu tun hat. Die Gefahr ginge ja auch weniger vom Hahn aus, sondern vom evt. aus der Leitung fließenden Treibstoff. Dann geht es um ein anderes Auto und auch wieder um die Besorgnis wegen eines entstehenden Schadens, der nicht mehr zu verhindern ist. Man kann aber die „bösen Buben“ zur Rechenschaft ziehen und droht ihnen, die Eltern zu benachrichtigen. Aus Rücksicht auf einen möglicherweise gewalttätigen Vater unterlässt man dies jedoch und vertraut auf die KfZ-Versicherung. Der Steinbrocken erinnert an etwas Gewichtiges und Festes, aber auch an Sisyphos, der einen Felsblock immer wieder einen Berg hinauftragen musste, und an Camus, der herausfand, dass im scheinbar Absurden doch noch ein Sinn und sogar Glück verborgen liegen können, denn der Mann hat Zeit, um über Gott und die Welt und über sich selbst nachzudenken, also zu philosophieren. „Man muss sich vorstellen, dass Sisyphos glücklich war.“ Das Rollen gegen die Wagentür im Traum erscheint gleichfalls als etwas Unsinniges, aber Knabenstreiche haben oft so etwas an sich. Da hilft nur Erziehung, aber besser nicht mit Brachialgewalt! Die Angst vor einem allzu strengen Vater taucht auf. Vielleicht war ja die Aktion der Knaben eine Art symbolische Bestrafung ihres gewalttätigen oder verantwortungslosen Vaters und hätte so doch noch einen wenn auch verborgenen Sinn. (Siehe: „Analyseträume“, 2014, von Walter Pollak)

Es handelte sich um eine „freudianische“ Analyse, und wie zu erwarten war die Traumsymbolik teilweise dementsprechend, aber schon damals enthielt der Traum zudem mythologische und archetypische Elemente!

Traumbilder entstammen dem Unbewussten, und S. Freud meinte, sie seien der „Königsweg“ dorthin. In früheren Zeiten glaubte man, die Träume sagten die Zukunft voraus. Heute weiß man, dass sie dies nicht tun, aber sie können uns wertvolle Hinweise geben, wie die "innere Stimme", und sie ermöglichen den Zugang zum Unbewussten. Ihre Deutung ist schwierig, da Traumsymbole mehrdeutig sind. Man sollte immer auch die Einfälle zum Traum des jeweiligen Träumers beachten, falls verfügbar.

Und so ist dieses Kapitel auch eines über Träume geworden, wenn auch mit dem Schwerpunktthema Kastration.

   

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