Philosophische
Gedanken und die Psychoanalyse
„Irrtümer
bildeten schließlich meist die
Fundamente der Wahrheit, und wenn
man von einem Ding nicht weiß, was
es ist, dann bedeutet es schon einen
Erkenntniszuwachs, wenn man weiß,
was es nicht ist.“ (C. G.
Jung, Schluss-Satz von „Aion")
Einleitung
Es haben sich schon einige den Kopf darüber zerbrochen, welche
Beziehung es gäbe zwischen der
Philosophie, der Liebe zur Weisheit,
und der Psychologie oder Psychoanalyse. Die Psychologie war
lange als die Lehre von der Seele
ein Teilbereich der Philosophie, und
in der Schweiz schloss ich mein
Studium seinerzeit nicht als
Dipl.-Psychologe ab, sondern als lic.
phil. Und tatsächlich hatte ich vor
Beginn des Psychologiestudiums auch
eine Zeitlang Philosophie studiert,
so dass mein Interesse an diesem
Fach geweckt worden war. Die
„Geisteswissenschaften“
unterscheiden sich von den
„Naturwissenschaften“, und der
menschliche Geist, seine Psyche,
sein Denken werden, je nach Ansatz,
mit ganz anderen Methoden und
Fragestellungen erforscht. Als
„praktischer Psychologe“, als
Psychotherapeut steht man zwischen
diesen Welten. Die
„Daseinsanalyse“ zeigt, wie
Psychotherapeuten auch theoretische
Grundlagen zu schaffen versuchten,
um das Philosophische mit dem
Psychologischen zu verbinden. Will
man den Menschen ganzheitlich
verstehen, so muss man auch dessen
existenzielle Dimension berücksichtigen
und ihn nicht nur als Gestörten mit
einer bestimmten Symptomatik
behandeln. Es geht um die Sinnfrage,
um die Endlichkeit, um die Kriterien
eines erfüllten Lebens, um
Anpassung und Eigenständigkeit, um
Zwang und Freiheit. Natürlich kann
der streng naturwissenschaftlich
orientierte Fachmann darauf
beharren, nur beweisbare oder
falsifizierbare Erkenntnisse (Karl
Popper) zu berücksichtigen, und
alles rein Spekulative und
„Transzendente“ beiseite zu
lassen. Er wird deshalb vermutlich
dem Ansatz von C. G. Jung als
„unwissenschaftlich“ und
„esoterisch“ mit Misstrauen
begegnen und sich gar nicht weiter
damit befassen. Und genau da
liegt der Fehler von vielen modernen
Wissenschaftsgläubigen. Man schüttet
das Kind mit dem Bade aus! Natürlich
wird man die Tiefenwirkung von
Mythen, Märchen und Symbolen auf
den Menschen nur bedingt
experimentell überprüfen können.
Eine psychoanalytische Traumdeutung
wird immer nur hypothetisch sein.
Der „Freudianer“ wird ganz
anders herangehen als ein „Jungianer“.
Alexander Mitscherlich deutete den
Ouroboros-Traum des Chemikers August
Kekulé
als Hinweis auf
einen
sexuellen Notstand. Der Ouroboros
ist aber ein archetypisches Symbol
der Integration und Assimilation des
Gegensatzes, des Schattens. Zudem
symbolisiert er die ständige
Selbsterneuerung und das
Eine, die
Ursprungseinheit,
das Enthaltensein im "Großen
Runden". Hinzu
kommt die symbolische und
archetypische Bedeutung der
Schlange, die einerseits als
Baum-Numen mit dem Chthonischen und
Erdhaft-Mütterlichen verbunden ist,
als erhöhte Schlange darüber
hinaus auch ein Heilssymbol
darstellt. Für den Wissenschaftler
Kekulé war nur der Aspekt des
„hilfreichen Tieres“ von
Bedeutung, das ihm aus dem
Unbewussten die bahnbrechende
Erkenntnis von der ringförmigen
Struktur des Benzols zukommen ließ.
Nicht schlecht, wird man sagen, aber
muss man sich darauf beschränken?
Hat das Unbewusste nicht noch
wichtigere Hinweise parat, die es zu
ergründen gilt? Dafür „im Trüben
zu fischen“ lohnt sich, denn es
befinden sich dort Schätze, die zu
heben sind. Nicht umsonst findet der
Drachenkampf meist statt, um einen
wertvollen Schatz zu erobern,
symbolisch die Individuation, oder
um die Prinzessin zu befreien,
symbolisch die Anima, also das
personifizierte Unbewusste.
Interessanterweise wendet sich die
moderne psychologische Forschung
wieder dem Unbewussten zu, was man
sehr schön in dem Buch „Vor dem
Denken“ des Sozialpsychologen John
Bargh (2017) erkennen kann. Die
Einstellung eines John B. Watson und
noch stärker eines Burrhus F.
Skinner,
wonach das Unbewusste gar nicht
existiere, weil man es nicht sehen
kann, erinnere ihn an das kleine
Kind, das Verstecken spiele, indem
es sich die Augen zuhält. Ein Traum
hatte ihm die Augen geöffnet
hinsichtlich der Bedeutung des
Unbewussten und dessen Ursprünglichkeit.
Dazu später mehr!
Als Praktiker sollte man keine Angst davor
haben, wissenschaftliche
„Standards“ zu relativieren und
sich darüber hinweg zu setzen. Auch
einseitige methodische
Engstirnigkeiten sollten überwunden
werden, im Interesse des leidenden
Menschen. Das bedeutet auch, eigene
Vorstellungen und Denkgewohnheiten
ständig selbstkritisch zu
hinterfragen und zu überdenken.
Auch angeblich „gesicherte“
wissenschaftliche Erkenntnisse haben
sich schon allzu oft als überholt
herausgestellt, und so ist ein
gewisses Misstrauen diesbezüglich
sehr zu empfehlen.
Ausgehend von den philosophischen Gedanken
werden in der Folge auch wichtige
Themenbereiche angerissen, als
Erstes der Eros. Liebe und Sexualität
gehören zu den wirkmächtigsten
Motiven und sind die Ursache von höchstem
Glück, aber auch von
schrecklichstem Leid.
Der Narzissmus und dessen Störungen
beschäftigten mich in den letzten
Jahren besonders, aufgrund der
schicksalhaften Begegnung mit
Menschen, die eine narzisstische
Persönlichkeitsstörung
beziehungsunfähig und hasserfüllt
gemacht hatte, und deren
narzisstische Wut zerstörerische
Auswirkungen hatte. Die Schuldfähigkeit
und der freie Wille berühren
Fragen, die von äußerster
Komplexität sind und absolut keine
einfachen Antworten dulden. Da halte
ich es gerne mit Kant: „Der Mensch ist frei
und dagegen: es gibt keine Freiheit,
alles ist naturgesetzliche
Notwendigkeit.“ Und mit Benjamin
Libet (1999), der den Romancier
Isaac Bashevis Singer zitiert:
“Das größte Geschenk der
Menschheit ist die freie Wahl.“
Und zuletzt geht es um die
Kastrationsangst sowie die Angst vor
Zerstückelung. Es werden
unterschiedliche theoretische
Annahmen vorgestellt, und im letzten
Kapitel geht es auch um Träume und
das Unbewusste,
um die persönliche
Weiterentwicklung und die
Individuation.
Philosophische
Gedanken und die Psychoanalyse
Bei
der Lektüre eines Buches über die
großen Fragen der Philosophie von
Rudolf Eucken aus dem Jahre 1919
kann man deutlich erkennen, wie
zeitlos und "zeitüberlegen"
die ideologiefreie
Geisteswissenschaft ist, denn Ähnliches
hätte genauso auch ein zeitgenössischer
Denker schreiben können. Aufhorchen
ließen insbesondere die Ausführungen
über den Einfluss des christlichen
Denkens auf unser Leben und unsere
Kultur. "Es erscheint eine
Spaltung, deren Überwindung zur
Aufgabe aller Aufgaben wird. Dass so
dem Menschen sein eigenes Wesen zum
Hauptproblem wird, das muss sein
Leben wesentlich zurückverlegen und
es vor allem mit sich selbst
befassen lassen." Gemeint ist
die Spaltung zwischen der
Innerlichkeit und der Sinnlichkeit,
da letztere ganz in den Dienst und
unter das Primat der ersteren
gestellt wird, aber daraus
erwachsend vor allem der Gegensatz
zwischen Gutem und Bösem. "Die
Wurzel des Übels ist nicht ein
Mangel an geistigem Vermögen,
sondern die moralische Schuld"
und weiter: "Ein Leben aus
freier Tat hebt sich über allen bloßen
Naturprozess hinaus, es beginnt ein
Kampf zwischen Freiheit und
Schicksal." Man
könnte auch „Innerlichkeit“
durch die introversive Denkfunktion
sowie eine gewisse Vertiefung,
Vergeistigung (Spiritualität),
entsprechend dem Logos-Prinzip oder
(neuplatonisch) dem „Nous“, und
„Sinnlichkeit“ durch das
extravertierte Fühlen und Empfinden
(„sensation seeking“) sowie eine
Beigabe von „Voluptas“ oder dem
Eros-Prinzip (dem „Sensus“)
ersetzen. Diese Überlegungen können
jedenfalls sehr gut in Verbindung
gebracht
werden mit psychoanalytischen
Theorien, insbesondere im Hinblick
auf innerseelische Spaltungen und
Spannungen, die ja meist zu tun
haben mit Konflikten zwischen
Triebanforderungen einerseits
und hemmenden, regulierenden
Instanzen andererseits. Darüber hinaus geht es um die unterschiedlichen
psychologischen Typen: die einen
sind mehr auf das Subjekt bezogen,
auf das eigene Ich (Introversion),
womit wir bei der
„Innerlichkeit“ wären, die
andern mehr auf das Objekt und die
Beziehungen mit der Außenwelt
(Extraversion), entsprechend der
„Sinnlichkeit“. Nietzsche
schrieb vom Gegensatz zwischen dem
Apollinischen und dem Dionysischen.
Das christliche
Weltbild hat in mancher Hinsicht
wohl eine prägende Rolle gespielt.
Unbewusste
innerpsychische Konflikte hat es allerdings
schon immer gegeben, wie auch die dabei beteiligten Grundthemen: Autonomie, Dominanz und
Unterwerfung, Nähe und Distanz,
Aggressivität, Sexualität. Gemäß dem Verständnis der Analytischen
Tiefenpsychologie im Sinne von C. G.
Jung läge die Spaltung zwischen dem
Instinkt- und Naturhaften,
Unbewussten und dem höheren
Geistigen,
Bewussten,
wobei letzteres in unserer Zeit überbewertet
wird, wie auch das konkrete,
empirische Denken.
In „Psychologische Typen“ (1995) schreibt
Jung
etwa von
der
„christlichen Zerreißung des
Menschen in ein wertvolles und ein
verworfenes Stück“.
So
wurde auch das höhere Männliche,
Solare, das Logos-Prinzip,
hinsichtlich des unteren Weiblichen,
Lunaren, des Eros-Prinzips, als überlegen
angesehen,
und
gleichzeitig wurden das Bewusstsein und die Ratio im Verhältnis
zum Unbewussten und zur Intuition überhöht. Der
Konkretismus mit seiner Überbewertung
des empirisch Beobachtbaren und
Messbaren habe zu einer
„Spezialistenmythologie“ geführt,
welche den Tod der Universalität
bedeute.
An anderer Stelle weist er darauf hin, dass schon der hellenistische
Synkretismus den Anfang gesetzt
hatte mit der Unterscheidung
zwischen dem Stofflichen, der Hyle,
der Seele (Psyche) und dem Geist
(Pneuma), verbunden mit einer
Akzentuierung des
Seelisch-Geistigen, wodurch dieses
von der naturhaften Körperlichkeit
abgetrennt wurde. Positiv daran war
die Entwicklung einer bewussten
Verantwortlichkeit und letztlich des
wissenschaftlichen Denkens und
Forschens, wobei sich im
aufkommenden Materialismus wiederum
das Hauptaugenmerk auf die Hyle
verlagerte. Das Zurückdrängen und die Entwertung des Unbewussten sieht Jung als
eine Entziehung von Libido (psychischer
Energie), die allerdings nötig war,
um das Bewusstsein zu stärken gegenüber
einer ursprünglichen
Vormachtstellung des Unbewussten. Ähnlich
könnte man das Patriarchat oder
besser das patriarchale Bewusstsein
als nötig im Sinne einer Überwindung
der Vormachtstellung des Weiblichen
ansehen. Ziel wäre ein neues
Gleichgewicht im Sinne der
Gegensatzvereinigung und einer
besseren Integration des Unbewussten
und damit der dunklen Seite, des
Schattens, ins Bewusstsein, wie es
schon in der Alchemie und der
hermetischen Philosophie
(Conjunctio) thematisiert wurde.
Analog hierzu wäre nicht ein neues
Matriarchat oder eine erneute
Vorherrschaft des matriarchalen
Bewusstseins anzustreben,
sondern ein
Ausbalancieren der
Machtverhältnisse. In Anlehnung an fernöstliches Denken kann man in diesem Zusammenhang an
die Polarität von Yin und Yang
denken: das weiblich, dunkle
Erdhafte im Gegensatz zum männlich,
lichten, höheren Geistigen, wobei
immer ein Ausgleich, eine Balance
angestrebt wird, entgegen jeder Einseitigkeit,
was
wesentlicher Bestandteil des
Individuationsprozesses ist und
symbolisch durch die „Chymische
Hochzeit“, etwa
zwischen Sonne und Mond dargestellt
wird. Es geht natürlich
immer auch um den alten
Leib-Seele-Dualismus,
die bereits erwähnte Spaltung zwischen Geist und Stoff
oder Natur, die allzu
oft
in
einen
dissoziativen und leidvollen
seelischen Zustand mündete
und zu dem Bemühen
führte, eine Einheit
zum „ganzen Menschen“ zu
erlangen. Hinzu komme die „metaphysische Spaltung“ zwischen der
Gotteswelt und Satan, zwischen dem
„summum bonum“ und dem absolut Bösen.
Es gilt auch da, eine Vereinigung der Gegensätze anzustreben und Gott als
„complexio oppositorum“ zu
sehen.
Dabei
geht es
wohlgemerkt um
die archetypische Vorstellung von
Gott, und nicht um den
Glaubensinhalt. Eine weitere
Polarität wäre die bereits erwähnte
zwischen Introversion und
Extraversion, wobei erstere primär auf
das Subjekt bezogen ist und letztere
auf das Objekt. Der alte Universalienstreit zwischen dem
Universalienrealismus sowie
platonischem Idealismus einerseits
und dem kynischen und megarischen
Nominalismus andererseits spiegelt in philosophischer Hinsicht diese
Gegensätzlichkeit. C.
G. Jung schreibt in
„Psychologische Typen“ (1995):
„Wirklichkeit ist nur das, was in
einer menschlichen Seele wirkt“.
„Die“ Wirklichkeit als einzig gültige
gibt es demnach gar nicht, und das
„esse in anima“ wäre die
vermittelnde Formel!
„Die
Psyche erschafft täglich die
Wirklichkeit“,
und
es sind die Fantasie, die
Imagination, ebenso Gedanke wie Gefühl,
die zwischen Innen- und Außenwelt
die Brücke schlagen.
Es
ist das Symbol mit seinem
Doppelcharakter, sowohl real als
irreal, das zwischen den Gegensätzen
vermittelt, da es im einen auch noch
das andere mit einschließt. Die
Ratio und das Bewusstsein sind dazu
nicht in der Lage, da sie nur das
Reale und
das eindeutig Bestimmte erfassen können,
gemäß dem Grundsatz der Logik
„tertium non datur“.
Und so
bietet uns die Psychoanalyse ein
zeitüberlegenes Verständnis
seelischer Zusammenhänge, ganz
unabhängig von Weiterentwicklungen
und Vertiefungen. Einen
interessanten biologisch-evolutionären
Gesichtspunkt hierzu findet man bei
dem Ameisen-Forscher Edward O.
Wilson in seinem Buch "Die
soziale Eroberung der Erde - Eine
biologische Geschichte des
Menschen". Grundlegend im
Menschen sieht er den Konflikt
zwischen eigennützigen,
egoistischen Motiven und dem Drang
zur Aufopferung für die
Gemeinschaft, wobei diese Zwiespältigkeit
auch die Grundlage für Kreativität,
Erfindungsreichtum und jedwedes
Streben sein soll. Passend zu
dem Thema und empfehlenswert ist das
Buch von R. D. Precht "Die
Kunst, kein Egoist zu sein."
Peter
Sloterdijk („Philosophische
Temperamente“ 2010) benennt als
Grundkonflikt der neuzeitlichen Welt
„den Widerspruch zwischen dem
operativen und dem meditativen
Geist“, der insbesondere von
Blaise Pascal mit fast archaischer
Heftigkeit verkörpert worden sei.
Also Weltverbesserung gegen
Besinnung. Die Menschen scheinen
aber doch langsam zu erkennen, dass
nur ein Zusammenspiel beider
Tendenzen sinnvoll ist und dass ein
reines Streben nach Beherrschung und
technischem wie ökonomischem
Fortschritt den tieferen
menschlichen Bestrebungen nicht
gerecht werden kann. Wenn
im philosophischen Denken Absurdität
und Verzweiflung überwiegen, dann
ist Ausweglosigkeit die logische
Folge, denn Sinnlosigkeit verhindert die Fülle des Lebens. Und so kann man Sloterdijk
zustimmen, wenn er meint, dass es für
die zukünftige Geschichte der
Menschheit gilt, ein
nachleibnizsches Prinzip des
Optimismus oder zumindest des
Nicht-Pessimismus zu regenerieren. Er
ist, wie viele andere neuzeitliche
Denker, skeptisch bis ablehnend der
Psychoanalyse gegenüber
eingestellt. Es geht dabei wohl vor
allem um einen „dogmatischen“
Ansatz, der mit dem Anspruch einer
Weltanschauung und nicht nur einer
wissenschaftlichen
Behandlungsmethode daherkommt.
„Die“ Psychoanalyse gibt es
ohnehin gar nicht mehr, angesichts
der verschiedenen Neuausrichtungen
und Weiterentwicklungen. Man kann
allerdings nicht leugnen, dass
innerhalb bestimmter Schulen die
Schriften des jeweiligen
„Meisters“ wie eine Bibel
behandelt werden, die nur noch der
richtigen Auslegung bedürfen.
Eine Tendenz zum
„Dogmatischen“ in der
psychoanalytischen Bewegung geht
allerdings auf Freud selbst zurück,
der in einem Gespräch mit Jung die
Sexualtheorie als Dogma und Bollwerk
gegen die „schwarze Schlammflut“ des
Okkultismus festlegen wollte. Jung
hatte die Vermutung, dass Freud vom
Numen der Sexualität
ergriffen
war. Für ihn sei sie
eine Art von „res religiosa
observanda“ gewesen, und die
sexuelle Libido sei zum „deus
absconditus“ geworden, habe „dämonische“,
„göttliche“ Attribute erhalten.
Bei
Rudolf Eucken findet man wegweisende
Ausführungen zum Thema Glück, die
ausgehend von Platon und Aristoteles
bis zur Neuzeit die Bedeutung und
die Berechtigung des Strebens nach
Glück unterstreichen. Es geht dabei
nicht um „Eudaimonismus“
oder „Hedonismus“, denn
Glück kann ganz unterschiedliche
Qualitäten haben, was bereits im Märchen
von „Hans im Glück“ sehr schön
zum Ausdruck kommt. Arete
belehrt Herakles wie folgt:
„Von
dem Guten und wahrhaft
Schönen geben die Götter den
Menschen nichts ohne Mühe und Fleiß.“
Auch in der
psychologischen Forschung hat man
sich mit diesem Thema befasst, und
Abraham Maslow hat in seiner „Bedürfnispyramide“
gezeigt, dass von der Befriedigung
der sog. Grundbedürfnisse bis zur höchsten
Stufe, der Selbstverwirklichung, mit
ihren Höhepunkten im beruflichen,
wissenschaftlichen oder kreativ-künstlerischen
Schaffen,
unterschiedliche Ausprägungen von
Zufriedenheit oder Glück auftreten
können. Von der
Selbstverwirklichung war bereits die
Rede bei Aristoteles, der
schon ähnliche Gedanken entwickelt
hatte, nichts ist so neu wie man
denken mag! Man kann hier ebenfalls
an den "Flow"-Zustand von
Mihály Csíkszentmihályi denken
oder an die "schöpferische
Leidenschaft" des Kurt Hahn,
dem Begründer der "Erlebnispädagogik",
das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit.
Zuletzt war es die "Positive
Psychologie", vor allem
verbunden mit dem Namen Martin
Seligman, dem auch der Begriff der
"erlernten Hilflosigkeit"
zu verdanken ist, die sich mit den
Umständen von Glück und
Zufriedenheit befasste. Es wurden
zahlreiche Komponenten oder "Stärken",
wie Liebe, Dankbarkeit, Neugier,
Optimismus, Humor und Tatendrang
sowie "Tugenden", wie
Weisheit, Mut, Menschlichkeit,
Gerechtigkeit, Mäßigung und
Transzendenz aufgestellt. Man
spricht in diesem Zusammenhang auch
von der ressourcenorientierten oder
der humanistischen Psychologie.
Es
geht aber nicht nur um Glück, um
Sehnsüchte, Träume, es geht auch
um die Sinnfrage, um ein erfülltes
Leben. Welche Umstände sind nötig
, um ein solches zu führen? Hört
man auf Nietzsche, so ist unser
Dasein nur gerechtfertigt als ästhetisches
und bejahenswertes Phänomen. Gemäß
seiner Idee von der "ewigen
Wiederkehr" ist jeder
Augenblick unseres Lebens in diesem
Sinne ewig, und wir sollen stets
bedenken, ob unser Handeln und
unsere Entscheidungen jeweils im
Sinne der Freiheit und des
"gelebten Lebens"
erfolgen. Das
"amor fati" bedeutet, sein
Schicksal anzunehmen, in freiem
Wollen und unabhängig davon, ob wir
letztlich wirklich frei sind.
Geschick und freier Wille in
paradoxem Wechselspiel! Leider verlor Nietzsche
selbst mit der Zeit den Boden unter
den Füßen und letztlich
sogar den Verstand. Den
unkontrollierten Einbruch des
Unbewussten konnte er allein
denkerisch nicht bewältigen.
Mit Wilhelm Schmid könnte man den
„existenziellen Imperativ“
befolgen: „Gestalte Dein Leben so,
dass es bejahenswert ist!“ Und
zwar in erster Linie für den
Einzelnen selbst, wenn möglich auch
für die andern, und nicht nur
hinsichtlich der „positiven“
Dinge, sondern insgesamt, mit allem,
was es an „Schönem“ aber auch
an Hässlichem, Peinlichem,
Unangenehmem und Schmerzlichem enthält.
Auch das Scheitern kann dazu gehören!
Entscheidend ist, ob das Leben als
„Gesamtkunstwerk“ bejahenswert
erscheint. Das "schöne
Leben" ist nicht ein leichtes
oder bequemes Leben, sondern eher
ein zumindest teilweise
beschwerliches, was aber Momente des
höchsten Glückes, etwa in der
Liebe, in der Freundschaft oder im
Schaffen nicht ausschließt. Ein
bejahenswertes Leben kann auch gegen
Widerstände von außen, gegen
gesellschaftliche Fehlentwicklungen
geführt werden und erhält so
gleichzeitig eine politische
Dimension, da das Hinwirken auf die
Veränderung von Missständen daraus
resultiert, was im Übrigen eine
Begleiterscheinung von
psychotherapeutischer Tätigkeit
sein kann. Als
Psychotherapeut ist oder wird man
auch immer ein wenig Philosoph, da
das Eintauchen in die Lebenswelt der
Menschen und in ihr Seelenleben
notwendigerweise dazu führt, dass
man sich Gedanken macht über die
großen Fragen des Daseins.
Diese
Dinge wurden natürlich schon lange
zuvor, vor allem im philosophischen
Denken, beschrieben, auch von
Platon. Ihm
war es vorbehalten, das Bild des
leidenden Gerechten zu entwerfen,
der verkannt und bis zum Tode
verfolgt wird (wie sein Lehrer
Sokrates), der aber durch alle Arten
von Anfechtung an innerem Glück
gewinnt, und hier sind wir natürlich
sehr weit vom landläufigen Verständnis
von Glück entfernt, da es nicht
mehr um die Befriedigung
irgendwelcher Bedürfnisse geht, um
das Streben nach materiellen Gütern
oder um Anerkennung von außen und
Macht, sondern um das Ruhen in sich
selbst, um den inneren Frieden und
eine geistige Freiheit, eine heitere
Gelassenheit, die einem nicht
genommen werden können. "Es
gibt kein volles Glück ohne
Seelengröße.“ Weiterentwickelt
wurde das Ganze durch Plotin, der
als Begründer der Mystik gelten
kann. Er meinte, in der Erfahrung
der Vereinigung mit dem Einen und
mit dem All das höchste Glück zu
finden. In ekstatischer Verzückung
und unbeschreiblicher Seligkeit
sollte man alles übrige vergessen können.
In die Niederungen des Alltags und
die nicht immer einfache
Lebensrealität sollte man dann gar
nicht mehr zurückkehren! Was das
Leben so an Prüfungen und Leiden zu
bieten hat, dem sollte geistige
Kraft dennoch gewachsen sein.
Schicksalsschläge, sowie körperliche
und seelische Erkrankungen, können
wohl das Lebensglück und die
Lebensfreude deutlich beeinträchtigen
oder gar zerstören, aber auch sie können
einen edlen Menschen nicht entwerten
und zerbrechen, denn durch alles
Unglück leuchtet bei ihm die Schönheit
der Gesinnung hindurch. Das Erlangen
von Glück wird von den Denkern
meist im Zusammenhang mit dem
Schaffen gesehen, mit dem
gestaltenden In-der-Welt-Sein, und
es ist unmittelbar mit der Sinnfrage
verbunden, womit wir bei Sisyphos
und seiner scheinbar sinnfreien Tätigkeit
wären, und bei seinem befreienden
Akt des Denkens und Philosophierens,
wobei symbolisch hier auch das ewig vergebliche Bemühen,
das Los der Sterblichkeit von sich
abzuwälzen, dargestellt wird.
Schelling wies darauf hin, dass der
Mensch nur durch das Schaffen dem
„horror vacui“, dem Grauen vor
dem Nichts, entkommen könne: „Im
Produzieren ist der Mensch nicht mit
sich selbst, sondern mit etwas außer
sich beschäftigt...“ Dies könnte als Loblied auf den Kapitalismus missverstanden
werden, aber auch hier gilt: Qualität
vor Quantität! Rutger Bregman hat
in seinem richtungsweisenden Buch „Utopien für
Realisten“ (2017) gezeigt, dass
mehr sinnvoll genutzte Freizeit zum
guten Leben gehört.
Der
„Minimalismus“, von Wolfgang
Schmidbauer schon 1992 in seinem
Buch „Weniger ist manchmal mehr.
Zur Psychologie des
Konsumverzichts“ angedacht, weist
uns den Weg: weg vom
Wachstumsdenken, hin zur
Bescheidenheit, auch zur Schonung
der Umwelt und der natürlichen
Ressourcen!
In
einer schweren Depression scheint
all dies wenig zu helfen, sind doch
die Freud- und Hoffnungslosigkeit
sowie die Gefühle der Resignation
allzu groß! Dennoch liegt hier
vermutlich der Schlüssel für die
Überwindung und das Meistern eines
solchen Zustandes, der sich dann
auch wiederum zur Quelle von neuer
Energie und Lebensfreude
zu entpuppen vermag und zur Bestätigung
der Annahme, dass jede Krise ihr
Gutes haben kann, soweit man nur in
der Lage ist, sie derart zu nutzen!
Dass Grenzerfahrungen und deren Überwindung
dazu führen können, dass der
Mensch erst zu sich selbst findet
und über sich hinaus wächst, hat
Karl Jaspers eindrucksvoll
beschrieben. Menschen, die
unmittelbar in ihrer Existenz
bedroht sind, sei es durch Krieg und
Verfolgung, sei es durch Krankheit
und Hungersnot, wird man solche
Gedanken nur mit Mühe nahe zu
bringen vermögen. Angesichts des größten
Elends über die Suche nach Glück
zu philosophieren, kann wie der
reine Hohn erscheinen, insbesondere
wenn es dem Denker selbst
vergleichsweise eher gut ergeht! Es
gilt dabei auch, ein Missverständnis
zu vermeiden: nicht ein falsch
verstandenes „positives Denken“
ist angesagt und eine Art „Schönrederei“,
sondern die Kunst der Bewältigung
von schweren Schicksalsschlägen,
des Erlebens und Aushaltens von
unaufhebbarer Gegensätzlichkeit.
Sicher hat das ebenfalls mit
Abwehrstrategien zu tun, aber die
sind ja nichts Schlechtes, im
Gegenteil, sie sind überlebenswichtig!
Schopenhauer sah das
Leiden der Welt und die Grausamkeit
der Natur, und in seiner düsteren
Betrachtungsweise schrieb er von der
Blindheit des weltschaffenden
Willens. Sicher kann man diese Sicht
nicht völlig beiseite schieben und
sollte sich mit ihr auseinander
setzen. Auch bei den Denkern wird
die grundlegende Gegensätzlichkeit
des Seins erkennbar: die hellen
Seiten ebenso wie die dunkleren! Im
Menschen gibt es Sinn und Unsinn,
wie auch in der Welt. Ob das
Sinnvolle die Oberhand gewinnen
wird, muss sich zeigen.
Im
Zusammenhang mit der Suche nach Glück
kann man an den Utilitarismus von
Jeremy Bentham denken, der in
moralphilosophischer Sicht auf dem
Kosten-Nutzen-Prinzip beruht, als
einzigem Kriterium für moralische
Entscheidungen. Es geht dabei um die
Maximierung von Lust und
Wohlbefinden sowie die Vermeidung
von Unlust und Schmerz. Der
amerikanische Philosoph Michael J.
Sandel („Gerechtigkeit“ 2013)
zeigt, dass diese Denkweise die
aktuellen Moralvorstellungen stark
beeinflusst, etwa wenn man
Foltermethoden rechtfertigt, um
Terroranschläge zu vermeiden, dass
dieser Ansatz aber zu kurz greift
und im Extrem den
Wert eines Menschen monetär
bestimmt, was natürlich zum
kapitalistischen
Denken passt
und
die Würde des Menschen mit Füßen
tritt. In Schweden wollte etwa die
amerikanische Tabakindustrie der
Regierung aufzeigen, dass keine Erhöhung
der Tabaksteuer
vonnöten sei, da das Rauchen
nachweislich dem Staat finanziell
nutze, indem das frühe Ableben der
Raucher bei den Renten, der
Gesundheitsversorgung und der
Altenpflege hohe Einsparungen
bringe. Zu Recht löste diese
Argumentation heftige Proteste
aus und wurde mit einer
Entschuldigung zurückgenommen. Der
Philosoph und Ökonom John Stuart
Mill brachte eine Weiterentwicklung
der Theorie und öffnete sie in
Richtung Menschenwürde und zusätzlicher ethischer
Prinzipien die
Persönlichkeit
betreffend, jenseits der Nützlichkeit.
Unter anderem war er der Meinung,
dass Konformität der Feind des
guten Lebens
sei! Die vollständige und freie
Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten
sei das höchste Ziel. Immanuel
Kant wiederum hat herausgestellt,
dass es einen Unterschied gibt
zwischen Personen, denen
als vernunftbegabte Wesen eine
besondere Würde und Respekt
zukommen, und Sachen, die man
benutzen kann, was ganz allgemein gegen
eine Verdinglichung und Vermarktung
von Menschen spricht. Vernunft
und Freiheit sind die Grundlage von
universell gültigen moralischen
Prinzipien, was nicht heißen will,
dass die Menschen immer vernünftig
und selbstbestimmt
agieren!
Aber
durch ihre Fähigkeit,
selbstbestimmt zu handeln, erhalten
sie ihre Würde. Eine
Gruppe von Philosophen, zu denen
auch Sandel gehört, berufen sich
auf Aristoteles und vertreten eine
moralphilosophische Richtung
(Kommunitarismus), die sich verstärkt
auf „narrative“ Aspekte des
Menschen gründet und auf das
„gute Leben“,
auch
wenn letzteres in der
pluralistischen Gesellschaft in
unterschiedlicher Weise definiert und
kontrovers diskutiert wird. Es geht
um Bindungen, um Loyalität und
Solidarität
sowie
teleologische Aspekte.
Dies bedeutet u. a. eine Aufgabe der
Neutralität des Staates in
moralischen Fragen. Überdenkenswert
ist die These von Sandel, dass ein
Ausblenden von konkurrierenden
moralischen und religiösen
Vorstellungen das Aufleben von
Fundamentalismen begünstigen könnte.
Barack
Obama habe die vorhandene Sehnsucht
nach Moral und Spiritualität
erkannt und ihr politischen Ausdruck
verliehen.
Andererseits war auch er ein Anhänger neoliberaler
Vorstellungen und liebäugelte mit
behavioristischen und
technokratischen Ansätzen. Der
Einsatz von Kampfrobotern (Drohnen)
spricht nicht unbedingt für hohe
moralische Standards. Immerhin war
er zu einer stärkeren Regulierung
der Märkte bereit, nachdem die
Finanzkrise gezeigt hatte, dass die
„algorithmische
Selbstregulierung“ zumindest in
diesem Bereich nur bedingt
funktioniert. Die
Weiterentwicklung und Anpassung von
Rechtsnormen beruht ja immer auf
einer gesellschaftlichen
Auseinandersetzung und
Neuausrichtung, mit entsprechenden
Argumentationen, die eine Veränderung
rechtfertigen. Es geht darum, eine
öffentliche Kultur zu schaffen, die
mit den unvermeidlich auftretenden
Meinungsverschiedenheiten
in
gegenseitigem Respekt
umzugehen
weiß. Man wird nicht umhin kommen,
sich in der Gerechtigkeitsfrage auch
mit Werten, Tugenden und
Zielvorstellungen zu befassen, wobei auch zunächst
utopisch erscheinende Szenarien wie
etwa jene von Rutger Bregman
vorgestellte zu berücksichtigen wären.
Von
Bedeutung erscheint mir, dass die
Philosophie und die Denker auch in
der heutigen Zeit wieder stärker
ihre Stimme erheben und zu den großen
aktuellen Problemen in der
Gesellschaft, in der Politik, in der
Erziehung, in der Wirtschaft, im
globalen Zusammenleben und in der
Umwelt Stellung beziehen.
Ein
bahnbrechender Denker in dieser
Hinsicht ist Michel Foucault. Seine
Schriften könnten zu der Vermutung
Anlass geben, er sei gar kein
Philosoph, sondern Sozialhistoriker
oder gar Sexualwissenschaftler, da
er sich bewusst mit Vorgängen und
Institutionen in der Vergangenheit
befasste, etwa mit psychiatrischen
Anstalten, Krankenhäusern und Gefängnissen.
Sein Anliegen war es, sich mit
Dingen auseinander zu setzen, die von
den Menschen problematisiert wurden,
und diese in einen größeren
Zusammenhang zu stellen, etwa in der
Diskurstheorie.
Philosophie
ist für mich vor allem die
Wissenschaft der Lebenskunst, natürlich
auch der Weisheit und der Liebe zu
Weisheit, Wahrheit und Erkenntnis,
entsprechend dem Wortsinn, aber sie
soll auch über Werte, über das
Gute und Schöne reden, also
moralische und ästhetische Fragen
angehen, ja sie soll überhaupt den
Menschen zeigen, dass es wichtig
ist, Fragen zu stellen und alles
immer wieder in Frage zu stellen. Dabei
sollte sie keine Angst haben vor
einer gewissen Sprengkraft und
Subversivität. Wahrheiten sind
nicht immer bequem und
beschwichtigend, schon gar nicht
immer dem „Zeitgeist“
entsprechend. Für die
Psychoanalyse und generell die
Psychotherapie müsste gelten, dass
man sich nicht nur für den Körper
und die Seele (Psyche) interessiert,
sondern auch für den Geist, das
Denken und die Transzendenz (nicht
im religiösen Sinn gemeint!). Eine
psychotherapeutische Schule hat dies
sogar in den Mittelpunkt gestellt,
und zwar die
"Daseinsanalyse", wobei
eine Reflexion über das
"Leiden am eigenen Sein"
und die Grundbedingungen der
menschlichen Existenz stattfinden
soll. Die Erkenntnisse und das Verstehen der Bilder aus dem
Unbewussten in der Analyse müssen
dann allerdings auch unbedingt als
ethische Verpflichtung gesehen
werden und als Anstoß zur persönlichen
Weiterentwicklung.
Montaigne und vor ihm Sokrates
und Platon meinten, Philosophie
bedeute Sterben lernen. Mit
Hans-Georg Gadamer könnte man ergänzen;
"Sterben lernen heißt lernen,
das anzunehmen, was das Leben
lebenswert macht." In Anlehnung an Epikur („Solange wir da sind, ist er
nicht da, und wenn er da ist, sind
wir nicht mehr.“)
meinte Karl Marx, der Tod sei nicht
für den ein Unglück, der sterbe,
sondern für den der überlebe! Der
Tod kann seinen Schrecken verlieren,
wenn er im Sinne einer natürlichen
und unabdingbaren Begrenztheit
unserer Existenz angenommen wird,
als eine "Conditio sine qua
non", ohne die es das Leben
nicht gäbe. Für das Geschenk des
Lebens müssen wir mit dem Tode
bezahlen. Das ist die Spielregel,
schon bei der Geburt so festgelegt. Wenn wir gelernt haben, zu teilen und die Dinge des Lebens
nur als Leihgaben anzusehen, dann
sind wir auch bereit, unser Leben
eines Tages wieder herzugeben und
loszulassen. C. G. Jung meinte, dass unser Leben
eine Vorbereitung auf den Tod sei
und dass letzterer als Ziel und Erfüllung
zu den normalen Aufgaben des Lebens
gehöre: "Nicht-leben-Wollen
ist gleichbedeutend mit
Nicht-sterben-Wollen." Der
ausgeprägte
Totenkult vieler antiker Völker,
etwa der Ägypter, bestätigt diese
These, wobei immer auch der
zuversichtliche Glaube an ein
Weiterleben nach dem Tode
sinnstiftend vorhanden war. Die
Aufklärung hat diese Hoffnung
nachhaltig erschüttert, aber man
kann zumindest nicht ganz ausschließen,
dass sich das menschliche Streben
nach Transzendenz und Vergeistigung
nicht doch auf irgendeine Art von
Unsterblichkeit bezieht. Der
Psychotherapeut und Autor Irwin D.
Yalom hat in seinem Buch „In die
Sonne schauen. Wie man die Angst vor
dem Tod überwindet.“ (2009)
einige hilfreiche Überlegungen
angestellt zu diesem Thema. Man könne
den Tod vergleichen mit dem
unbewussten Zustand vor der Geburt,
in den wir am Ende des Lebens erneut
eintauchen. Probleme mit dem Tod
wird man vor allem dann haben, wenn
das eigene Leben als nicht erfüllt
angesehen wird und man keine
"Wellen" angestoßen hat,
die andere Menschen erreichen und
unseren Tod überdauern. Dabei geht
es wohlgemerkt nicht um die persönliche
Identität des Einzelnen, sondern um
wertvolle und sinnstiftende
Anregungen, die sich wellenförmig
ausbreiten und so ihre Wirkung
entfalten. Die Bedeutung dieser Wellen, sogar in
"kleinsten" Dingen, wird
auch vom Sozialpsychologen John
Bargh („Vor dem Denken“ 2017)
bestätigt, und zwar aufgrund der
neuesten Befunde der Forschung!
Der
Germanist und Psychotherapeut
Wolfram Schmitt („Leib,
Wandlung und Transzendenz
in
der
Lyrik
Rainer
Maria
Rilkes“,
2015)
meint, dass der Tod im Leben immer
schon enthalten sei und uns
begleite. Ziel des Lebens und der
Dichtung sei es, mittels Wandlung
und Metamorphose bei uns selbst
anzukommen, in unserem Inneren und
im „Weltinnenraum“. Daraus entstehend kann
man vielleicht jene Haltung des
taoistischen „Wu wei“ erreichen:
das „Tun durch Nichts-Tun“
oder
besser "Tun und Nichts-Tun" (vielleicht auch „Ergreifen, Begreifen durch
Nicht-Ergreifen, Nicht-Begreifen“) oder
das „Sich-Lassen“ des Meister
Eckhart. Dann wird man annehmen können,
was von innen oder von außen auf
uns zukommt,
auch wenn es irrational
und unbegreiflich erscheint, „ein
Gefühl von Versöhnung mit dem
Geschehenden überhaupt“, wie C.
G. Jung es ausdrückt.
Diese Fähigkeit, sich selbst und
die Welt annehmen zu können, wird
allerdings immer auch davon abhängen,
inwieweit man das Angenommensein
durch die Mutter (die Urbeziehung) in ganz früher
Zeit am eigenen Leib erfahren hat.
Philosophie
sollte uns zu intellektueller
Bescheidenheit anleiten, zu dem
Bewusstsein, dass wir sehr vieles
nicht wissen oder nur rudimentäres
Wissen besitzen, ganz im Sinne von
Sokrates, der seinen Mitbürgern
immer wieder zeigte, wie wenig wir
wissen angesichts der Geheimnisse
der Welt und des Universums. Heute könnte
man hinzufügen "der Universen",
da es wahrscheinlich nicht nur eines
gibt und wir eine erneute
kopernikanische Wende erleben: unser
Universum ist nur eines von vielen!
Eros
Masken!
Masken! Daß man Eros blende.
Wer
erträgt sein strahlendes Gesicht,
wenn
er wie die Sommersonnenwende
frühlingliches
Vorspiel unterbricht.
Wie
es unversehens im Geplauder
anders
wird und ernsthaft... Etwas
schrie...
Und
er wirft den namenlosen Schauder
wie
ein Tempelinnres über sie.
O
verloren, plötzlich, o verloren!
Göttliche
umarmen schnell.
Leben
wand sich, Schicksal ward geboren.
Und
im Innern weint ein Quell
(R.
M. Rilke)
"Der
Wahn ist kurz, die Reu ist
lang." Etwas Wahnhaftes hat die
Liebe schon, aber sie ist
gleichzeitig wie ein Zauber, der uns
verändert und verklärt. Ohne sie wäre
das Leben ziemlich grau und
langweilig, mit ihr ist es aufregend
und voller Elan, man will sie nicht
missen. Und doch ist sie auch ein
Quell von Seelenschmerz, möglicherweise
sogar lebensgefährlich, zerstörerisch.
Für die Philosophen war sie immer
schon ein Thema, nicht nur für die
Dichter und Künstler, auch wenn es
zunächst die Liebe zur Weisheit
ist, die sie behandeln oder die
"platonische Liebe".
Epikur im Garten der Lüste wendete
sich an einen Schüler, der ihm
berichtet hatte, seine körperliche
Erregung dränge ihn häufig zu
sexueller Befriedigung: "In
Ordnung. Wenn du dabei nie die
Gesetze brichst, nicht die Gebote
guter Sitten verletzt, keinen deiner
Mitmenschen kränkst, auch deinen Körper
nicht zugrunde richtest und das zum
Leben Notwendige nicht
verschleuderst, dann gib dich deiner
Neigung so hin, wie du willst.
Allerdings ist es unvermeidlich,
sich dabei in mindestens einen
dieser Tatbestände zu verstricken.
Die geschlechtliche Liebe hat nämlich
noch nie etwas genutzt, man muss
sich schon freuen, wenn sie nicht
schadet". (Gnom. Vat. Ep.
51) Er und andere Weise waren
demnach zumindest der körperlichen
Liebe gegenüber recht vorsichtig
und besorgt, was manche dazu führte,
eine sublimierte Form der Liebe zu
bevorzugen, ähnlich wie der
alternde Sokrates den Alkibiades
zwar sehr liebte, aber eben auf
diese rein geistige Weise, trotz der
Avancen des jungen Mannes. Sokrates
wollte ihm den Schatz der
Weisheit vermitteln: "Die
Weisheit des Meisters ist nunmehr
das Objekt der wahrhaften
Liebe." Er wird von der Kraft
der wahrhaften Liebe getragen, und
er weiß das Wahre, das man lieben
soll, wahrhaft zu lieben. Gemeint
sind damit auch das Schöne, die
Ästhetik, sowie die Kunst, deren
Ursprung der Eros sei. Alkibiades
berichtete später in einem leicht
angetrunkenen Zustand, er habe
versucht, den Meister zu verführen,
indem er in dessen Bett schlüpfte,
aber es sei gewesen wie wenn er mit
seinem Vater oder dem älteren
Bruder geschlafen habe! Einige
Philosophen dachten auch, es sei
besser, wenn der Weise unverheiratet
bliebe, um nicht abgelenkt zu sein
durch Frau und Kinder und um sich
ganz der geistigen Tätigkeit widmen
zu können. Vielleicht spielte hier
das abschreckende Beispiel der Ehe
von Sokrates mit Xanthippe eine
Rolle, aber Nietzsche meinte ja,
dass Sokrates es nicht besser hätte
treffen können, da er vor seiner zänkischen
Frau immer wieder die Flucht
ergriff, um draußen zu
philosophieren und die Leute anzusprechen.
Möglicherweise liegt hier auch der
Ursprung des späteren Zölibats der
Priester. Die griechischen Denker
waren ja nicht ohne Einfluss auf das
Christentum. Ernest
Bornemann („Das Patriarchat“
1984) hingegen meinte, man dürfe
nicht die Xanthippe als unmögliche
und zänkische Ehefrau hinstellen,
sondern eher Sokrates als unmöglichen
Ehemann. Ziemlich hässlich soll er
ja gewesen sein. Bei
Nietzsche findet sich ein Text in
"Fröhliche Wissenschaft",
der die mögliche Entfremdung
zwischen Liebenden in sehr schöner
Form darstellt:
"Wir
sind uns Einmal im Leben so nahe
gewesen, dass Nichts unsere Freund-
und Bruderschaft mehr zu hemmen
schien und nur noch ein kleiner Steg
zwischen uns war. Indem du ihn eben
betreten wolltest, fragte ich dich:
"willst du zu mir über den
Steg?" – Aber da wolltest du
nicht mehr; und als ich nochmals
bat, schwiegst du. Seitdem sind
Berge und reißende Ströme, und was
nur, trennt und fremd macht,
zwischen uns geworfen, und wenn wir
auch zu einander wollten, wir könnten
es nicht mehr! Gedenkst du aber
jetzt jenes kleinen Steges, so hast
du nicht Worte mehr, – nur noch
Schluchzen und Verwunderung."
Es
geht hier um Nähe, möglicherweise
zu viel Nähe, und um Macht. Schon
die Frage, ob der andere über den
Steg kommen wolle, führt zu einem
Zurückschrecken und danach sogar
zur Trennung. Dabei hätte es der
Frage gar nicht bedurft! Der andere
war ja schon dabei, den Steg zu
betreten. Angst vor zu viel Nähe,
vor dem Verlust der eigenen Identität
und der Autonomie kann demnach zum
Scheitern einer Liebesbeziehung führen.
Die
Distanzregulierung gehört nach C.
G. Jung zu den schwierigsten
Problemen des
Individuationsprozesses. Wir neigen
dazu, die Distanz einseitig
abzubauen und dadurch den andern in
gewisser Weise zu vergewaltigen,
wodurch entsprechende Ressentiments
entstehen. Jede Beziehung hat ihr
Optimum an Distanz, welche es
herauszufinden gilt. Das
archaische Gefühl der Identität,
das wir beim Verliebtsein erleben,
kann sich als Irrtum herausstellen,
so lange wir nicht unsere
Projektionen zurückgezogen haben.
Es gibt aber auch die wahre und
tiefe Begegnung auf einer höheren
Ebene, die eine schicksalhafte
Verbindung zum Selbst in einer anderen Person in seiner Ganzheit
darstellt. Etwa wenn wir jemandem
erstmals begegnen und meinen, dass
wir ihn schon „seit Ewigkeiten
kennen“. In dieser Art von Liebe
kann der „kosmische Mensch“, der
„Anthropos“ wieder auferstehen
und gegen die Fragmentierung und
Atomisierung der modernen
Gesellschaft wirken, so Marie-Louise
von Franz in „Archetypische
Dimensionen der Seele“ (2012).
Vielleicht ist das jene
„zweckfreie“ Liebe, die Erich Fromm meinte, als er diese dem konsumorientierten
Streben nach sexueller Lust
entgegensetzte. Wenn letzteres im
Vordergrund steht, dann könnte man
meinen, dass man von der
„wahren“ Liebe weit entfernt
sei, aber schwingt hier nicht eine
lustfeindliche Einstellung mit
hinein? Sicher kann man etwa den
„pädagogischen Eros“ von der
geschlechtlichen Liebe abgrenzen,
wobei auch ersterer nicht zweckfrei
ist, aber mit der körperlichen
Vereinigung ist die Voluptas, der
Liebesgenuss, untrennbar verbunden. Geht
es allerdings darum, vor allem
selbst geliebt zu werden, statt die
Fähigkeit zu lieben
weiterzuentwickeln, dann wird der
andere Mittel zum Zweck und die
Liebe obsolet!
Zeitgenössische
Philosophen wie beispielsweise
Richard David Precht ("Liebe,
ein unordentliches Gefühl")
oder Wilhelm Schmidt ("Die
Liebe neu erfinden") haben das
Thema aufgegriffen und zeigen, dass
es an Aktualität nichts verloren
hat, im Gegenteil. Die Sehnsucht
nach der Liebe, womöglich der
"absoluten" Liebe ist stärker
denn je, was vermutlich auch daran
liegt, dass die Menschen in der
Liebe eine Art Religionsersatz
gefunden haben, der ihrem Leben Sinn
und Glücksgefühle verleihen soll,
wobei dann natürlich die Enttäuschungen
nicht ausbleiben, denn Liebe soll ja
keine einseitige Sache bleiben und
erfordert das Mitspielen eines
anderen, der dann möglicherweise
nicht mitspielen will oder ganz
anders spielt als erwartet oder erwünscht
und der vielleicht erst mitspielt
und einem später dann übel
mitspielt. Zudem währt ja
bekanntlich der Zustand des
Verliebtseins nicht ewig, und es
stellt sich immer wieder die Frage:
was kommt danach?
Trennungsgeschichten mit erbittertem
"Rosenkrieg" und
Schlammschlachten kennt man zur Genüge,
auch als Psychotherapeut wird man häufig
damit konfrontiert und insbesondere
mit den unseligen Folgen für die
Kinder der zerstrittenen Eltern. Es
ist dann nicht mehr Liebeskunst,
sondern Beziehungskunst gefragt,
sowie Gesprächskunst, und da sind
viele überfordert, oder es fehlt
ihnen die Bereitschaft, diese
"Arbeit" zu leisten.
Gelingt aber die Überwindung der
unvermeidlichen
Krisen, und man gelangt zu einer
neuen Stufe im Lieben, die mehr mit
Freundschaft, mit Vertrauen, Verständnis,
mit Wärme und Geborgenheit zu tun
hat, dann kann eine solche Beziehung
lange währen, und sie bekommt
dadurch eine ganz neue Qualität und
Konsistenz. Die
aktuelle Empathieforschung zeigt die
Bedeutung des Spiegelns in einer
Liebesbeziehung. Vor allem in den späteren
Phasen einer Partnerschaft ist es
wichtig, ob beide in der Lage sind,
einander problemlos und intuitiv zu
spiegeln, wobei natürlich auch die
zunehmende Vertrautheit eine Rolle
spielt.
Oder
aber man erkennt, dass man doch
nicht für eine dauerhafte
Partnerschaft bestimmt ist und
trennt sich in Würde, was ebenfalls
eine Kunst ist und was man unter
Umständen auch nicht ohne Hilfe
bewerkstelligen kann. Eine
Paartherapie bedeutet nicht
unbedingt, um jeden Preis ein Paar
zusammenzuhalten. Vielmehr soll sie
dazu dienen, die Beziehung zu klären
und einen Entwicklungsschritt möglichst
gemeinsam zu wagen oder eben
auseinander zu gehen, ohne allzu große
gegenseitige Verletzungen und Kränkungen.
Im günstigsten Falle bleibt man
freundschaftlich miteinander
verbunden, was vor allem bei
vorhandenen Kindern für diese ein
Segen ist.
Schon Ovid befasste sich in „Remedia
Amoris“ mit dem möglichen
Scheitern der Liebe sowie dem
Liebeskummer und ergänzte so seine
„Ars amatoria“. Wenn man über
den Schmerz hinweg sei, könne man
erneut nach letzterer greifen und
eine neue Liebe beginnen. Heutzutage
wäre der „Kamasutra“ eine näher
liegende Alternative.
Häufig
geht es in der Krise um einen
Seitensprung, also um eine meist vorübergehende
Dreieckskonstellation, wobei es sich
sehr oft um die Reinszenierung des
ödipalen Konflikts handelt. Der
Paarspezialist Hans Jellouschek hat
in seinem Buch "Warum hast Du
mir das angetan? Untreue als
Chance." gezeigt, dass
Fremdgehen eines Partners nicht nur
negative Auswirkungen haben muss,
obwohl es zunächst als starke Kränkung
und als Vertrauensbruch erlebt und
erlitten wird und
aus moralischer Sicht wohl kaum zu
befürworten ist. Es kann
aber die Beziehung auch beleben,
neue Spannung erzeugen und einen
gemeinsamen Entwicklungsschritt ermöglichen.
Eine solche Krise macht zudem
deutlich, dass in einer
Partnerschaft viele Dinge immer
wieder neu ausgehandelt werden müssen
und dass nie etwas ein für alle Mal
festgelegt ist, auch wenn man sich
auf bestimmte Regeln geeinigt hat.
Natürlich macht sich der Übertreter
einer dieser Regeln in gewissem
Sinne schuldig, und der andere hat
nun die Aufgabe, ihm dies zu
vergeben und nicht ein Leben lang
immer wieder "aufs Brot zu
schmieren". In der Liebe muss
es möglich sein, Fehler des anderen
zu ertragen und zu verzeihen. Sollte
ein Seitensprung aber zur Trennung führen,
so war es vielleicht der
erforderliche Anlass, um diese
Entscheidung treffen zu können.
In
der Liebe wird eine Sehnsucht des
Menschen nach Transzendenz, nach
Erweiterung seines Selbst erkennbar,
bis hin zur Entgrenzung und
Verschmelzung, also dem Einswerden
mit einem andern und der damit
verbundenen Gefahr, sich selbst zu
verlieren und in die „archaische Identität“ (C. G. Jung) zurückzufallen. Die Liebe kann sich nämlich
von
der Ergriffenheit zur Besessenheit steigern,
bis hin zu einer Art Selbstverlust,
was wiederum zum Überdruss beim
Partner führen kann.
Wahrscheinlich löst die
Liebe deswegen auch Gefühle der
Angst aus, sie ist ein
Ausnahmezustand. In ihr erleben wir
das Gefühl der Entfremdung, der
nicht aufhebbaren Distanz zwischen
den Menschen. Dauerhaftes Einssein
und Harmonie sind nicht möglich,
und daraus ergibt sich die Erfahrung
der Einsamkeit. Die
paradiesische Ursprungseinheit ist
nicht mehr wiederzugewinnen.
Zur Liebe gehört
das Wort Leidenschaft, und es wird
immer wieder darauf hingewiesen,
dass sie im Wortsinn auch
"Leiden schafft".
Vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass man in unserer
Zeit dazu neigt, die Liebe zu
„entschärfen“. Der Philosoph
Byung-Chul Han meint dazu: „Und
ist es nicht tatsächlich so, dass
man auch in der Liebe heute jede
Verletzung meidet? Man will nicht
verletzlich sein, man scheut jedes
Verletzen und jedes Verletztsein. Für
die Liebe braucht man einen hohen
Einsatz. Aber man meidet diesen
hohen Einsatz, weil er zur
Verletzung führt. Man vermeidet
Leidenschaft, und in Liebe zu
verfallen ist schon zu viel
Verletzung.“
Die Liebe wird ohnehin nicht das höchste Gut und
Ziel des Lebens sein. Sie kann uns
aber hinführen zum wichtigeren Ziel
der Einheit und Ganzheit des Selbst
in der gelungenen Individuation und
zunehmenden Bewusstheit. Wir müssen
zum Kern der Persönlichkeit
vordringen, zum „punctum
indivisibile“, zur Aufhebung der
Gegensätze. Wenn wir der Liebe zu
viel Raum geben, uns sozusagen in
den andern verlieren, vielleicht
ohne dass der es überhaupt wert
ist, dann kommt man in eine Übertreibung
und Übersteigerung hinein, wobei
oft kreative Energien oder religiöse
Gefühle gebunden werden, die viel
produktiver genutzt werden könnten.
Leider erkennt
man dies oft erst hinterher. Im
Verliebtsein wird eine Art von
Schicksalszwang (Heimarmene)
erkennbar, der die Freiheit der Wahl
einschränkt. Der Eros ist ein
Numinosum, ein "mysterium
fascinans" wie auch ein
"mysterium tremendum",
Himmel und Hölle, Gott und Teufel. Im
„Hohelied der Liebe“ hat Paulus
im Korintherbrief über dieses
Geheimnis Wunderbares geschrieben:
„Wenn ich mit Menschen- und mit
Engelzungen redete, und hätte der
Liebe nicht, so wäre ich ein tönend
Erz oder eine klingende Schelle. ...
sie verträgt alles, sie
glaubet alles, sie hoffet alles, sie
duldet alles. ... Die Liebe höret
nimmer auf, so doch die Weissagungen
aufhören werden und die Sprachen
aufhören werden und die Erkenntnis
aufhören wird. Denn unser
Wissen ist Stückwerk, und unser
Weissagen ist Stückwerk. Wenn
aber kommen
wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk
aufhören.“
In dem erwähnten
Buch von Precht ist mir ein Passus
etwas unangenehm aufgefallen, und
zwar seine Ausführungen über Freud. Er scheint nicht sehr viel von ihm zu halten
und macht sich sogar ein wenig
lustig über ihn. Im Zusammenhang
mit den Theorien zur Liebe sind
seine Angaben aber auch unrichtig.
Er meint, Freud habe eine Art
"Beschädigungstheorie"
vorgestellt, da er meinte, der
Mensch bleibe irgendwie unvollständig
durch die nicht geglückte Ablösung
von der Mutter, und er suche später
in der Liebe die Einheit mit der
Mutter wiederherzustellen. Es stimmt
wohl, dass die Ablösung von der
Mutter (von der „Großen
Mutter“!) nicht immer gelingt, und
wir Therapeuten haben dadurch viel
zu tun, aber in der Regel wird sie
doch stattfinden, was mitunter eine
Lebensaufgabe bleibt. Und in der
Liebe wird der Mann vielleicht in
der Frau einen Mutterersatz suchen
und die Frau im Partner einen
Vaterersatz, aber es ist doch eher
so gedacht, dass die Liebe zu den
Eltern eine Art Vorläuferfunktion
hat, damit wir als Erwachsene
richtig lieben können. In der
Evolutionspsychologie (Stephen Jay
Gould) wird dies teilweise genau so
gedeutet, dass die Liebesgefühle
sowie die damit einhergehende Ausschüttung
von Glückshormonen ursprünglich
die Brutpflege sichern sollten und
dann als "Spandrel",
sozusagen ein Nebenprodukt der
Evolution, weiterbestanden. Die
Sache mit dem unvollständigen
Menschen findet sich eher in der
griechischen Mythologie, und zwar in
der Idee der
"Kugelmenschen", von denen
Platon im „Symposion“ erzählt
(die „Aristophanische Legende“).
Es habe nicht nur Männer und Frauen
gegeben, sondern auch ein „drittes
Geschlecht“, die „Mannweiber“,
also Hermaphroditen. Demnach hätten
alle Menschen ursprünglich vier
Beine, vier Arme und einen Kopf mit
zwei Gesichtern gehabt, und Zeus
habe sie zur Strafe für ihr
Aufbegehren gegen die Götter
zweigeteilt. Seither leiden die
Menschen an ihrer Unvollkommenheit,
seien immer auf der Suche nach ihrer
fehlenden Hälfte, und dies sei der
Ursprung des erotischen Begehrens.
Freud bezog sich zwar in „Jenseits
des Lustprinzips“ (1920) auf diese
Geschichte, brachte sie aber in
Zusammenhang mit seiner Annahme des
regressiven Charakters der Triebe.
Es bestehe das „Bedürfnis nach
der Wiederherstellung eines früheren
Zustandes“. C. G. Jung erkannte
den Archetypen „Hermaphroditus“
und postulierte wie Freud den
„Psychischen Hermaphroditismus“.
Davon abgeleitet entwickelte er die
Konzepte „Anima“ und
„Animus“. Teleologisch gesehen
kann natürlich die Begegnung mit
dem anderen oder dem eigenen
Geschlecht sehr wohl zu einer
Weiterentwicklung und zu einer
gelingenden Individuation führen,
aber nicht, um ein Defizit
auszugleichen, sondern um die
Bestimmung des zum Mitmenschen
hingewandten Wesens zu
verwirklichen. Falls man in der
Psychoanalyse von einer Beschädigungstheorie
sprechen möchte, so beträfe es
allenfalls die
Kastrationsproblematik, wobei es
nicht um eine reale Beschädigung
geht, sondern um eine fantasierte.
Darüber hinaus kann man in
Anlehnung an Erich Neumann
(„Ursprungsgeschichte des
Bewusstseins“ 1974) die
Kastrationsangst nicht nur als
Beiwerk der ödipalen Triangulation
verstehen, als Angst vor der
Bestrafung durch den Vater, sondern
ursprünglich verbunden mit dem
Archetypus der „furchtbaren
Erdmutter“, die zur Befruchtung
das Blut, den zerstückelten
Körper und den Phallus des
„Sohngeliebten“ als Opfer
einfordert. Nur so wird neues Leben
möglich, durch das Sterben und die
Wiederauferstehung oder
Wiedergeburt.
Die „Welt des
Eros“ entsteht mittels der
Befreiung der Gefangenen, der
Prinzessin, Ariadne oder Andromeda,
wie es im Heldenmythos symbolisch
dargestellt ist. Dadurch wird die
„Anima“, das „obere
Weibliche“, aus dem Bild der Großen
Mutter herausgelöst und verbindet
sich mit dem „oberen Männlichen“,
was wiederum gleichbedeutend ist mit
der Befreiung von der Übermacht des
Unbewussten und der
Weiterentwicklung des Bewusstseins.
Die Befreiung der Gefangenen und die
Gewinnung des Schatzes, der
„schwer erreichbaren
Kostbarkeit“, symbolisieren die
Selbstfindung und das Schöpferischwerden
der Seele, die Synthese des
Ichbewusstseins mit dem kreativen
Unbewussten. Es geht um das
Heraufholen und die Verwirklichung
jener Bilder der Seele, und diese
„selbstzeugerische“, schöpferische,
„göttliche“ Kraft ist es, die
uns erst zu Menschen macht.
In
den Studien der Soziologin Eva
Illouz (2011 und 2013) wird
erkennbar, dass es zumindest aus
feministisch-soziologischer Sicht
bei der Liebe offenbar immer auch um
Herrschafts- und Machtfragen geht,
wobei sozioökonomische Faktoren und
die soziale Mobilität zusätzlich
eine Rolle spielen. Es geht also
nicht zuletzt ums Geld, um Konsum, um
finanzielle Absicherung und die Möglichkeit,
durch einen geeigneten Partner in
der gesellschaftlichen Hierarchie
wenn möglich aufzusteigen. Die von
männlicher Seite gefühlte und natürlich
nicht wissenschaftlich abgesicherte
zunehmende Macht der Frauen, die uns
Männer immer mehr in die Defensive
drängt, wird von der anderen Seite
gerade durch die Entwicklung in
Liebesdingen wiederum als gefährdet
angesehen! Neue Formen
„emotionaler Herrschaft“ von Männern
über Frauen werden ausgemacht. Im
Übrigen weist die Autorin in ihrem
Buch „Warum Liebe wehtut. Eine
soziologische Untersuchung“ darauf
hin, dass eine besondere
Verletzlichkeit des Selbst in der
Moderne auch dazu führt, dass
gerade in den Liebesbeziehungen eine
solche Verletzlichkeit, die sowohl
emotionaler als institutioneller
Natur ist, zum Liebesleid
entscheidend beiträgt. Sie zeigt
auch die Besonderheiten von Liebesglück
und Liebesleid in unserer Epoche,
wobei u.a. die „überwältigende
Bedeutung der Liebe für die
Ausbildung eines sozialen
Selbstwertgefühls“ hervorgehoben
wird. „Sexueller Kapitalismus“
äußere sich etwa darin, dass man
seinen Selbstwert von der Anzahl der
Sexualpartner abhängig macht, also
Quantität gleich Qualität!
Beliebige Austauschbarkeit der
Objekte spricht aus
psychoanalytischer Sicht aber für
eine Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit.
Der andere wird nicht als
geliebter Mensch in seiner Ganzheit
wahrgenommen, sondern nur partial
als Bedürfnisbefriediger
"benutzt". In
ihrem geplanten Buch „Entlieben“
geht Illouz näher ein auf die
Trennungsproblematik und vermutet,
dass die Beziehungspartner meist zu
schnell das Handtuch werfen. Man
gehe auseinander, um dadurch die
eigene Identität zu formen. Die Zurückweisung
des andern werde zur Bestätigung
des eigenen Selbst, also zu
einem Gewinn
an Autonomie. Die Modalitäten der
Trennung seien nicht durch ethische
Regeln bestimmt, und so kann es zu
sehr lieblosen und verletzenden
Aktionen kommen, wie etwa die plötzliche
Abschieds-SMS oder
Whatsapp-Nachricht, die zudem als
Zeichen der Unbeholfenheit und
Hilflosigkeit in Beziehungsdingen
anzusehen sind.
Vorhandene Zusammenhänge zwischen
Deregulierung der Wirtschaft,
Konsumverhalten und entsprechendem
Begehren auf der einen Seite und
Deregulierung der Partnerwahl,
Sexualität als eine Art allgemeine
Metapher des Begehrens auf der
andern Seite, werden erkennbar. Die
„Konsumkultur“ habe zu einer
Kommerzialisierung der Sexualität
geführt, sowie zu einer
„Sexualisierung“ der Körper und
der Beziehungen. Geholfen hätten
dabei die moderne Psychologie und
die Psychoanalyse! Absicht war es
wohl nicht, aber natürlich kann man
deren Erkenntnisse auch
missbrauchen, vermarkten und sogar
zu Werbezwecken benutzen. Sie werden
deshalb nicht falsch, aber immer
wieder kann man gerade bei
gebildeten Frauen eine gehörige
Skepsis gegenüber der Psychoanalyse
feststellen. Handelt es sich
um eine spezifisch weibliche Form
von narzisstischer Kränkung, die möglicherweise
mit der Kastrationstheorie zusammenhängt?
So als hätte S. Freud damit den
Finger in die Wunde gelegt, und das
als Mann! Angeführt wird meistens
der Umstand, dass S. Freud die
„Verführungstheorie“
dahingehend geändert hat, dass er
annahm, die von Frauen erinnerten
Verführungen durch die Väter in
der frühen Kindheit seien überwiegend
Fantasien. Der
Sexualwissenschaftler Volkmar
Sigusch („Sexualitäten“ 2013)
meint, dass Freud fälschlicherweise
den anatomischen Unterschied
zwischen Frauen und Männern als
Ursache des Minderwertigkeitsgefühls
der Frauen ansah. Vielmehr seien es
allein gesellschaftliche
Mechanismen, nämlich der Sexismus
und das patriarchale Denken, die
daran Schuld seien und
die von Freud nicht erkannt worden
seien.
Letztere sollte man sicherlich nicht
unterschätzen, aber dennoch wäre
es meiner Meinung nach verfehlt, den
Kastrationskomplex einfach so ad
acta zu legen. Richtig
ist, dass Freud lange Zeit Mühe
hatte mit der weiblichen Sexualität
und sie als einen „dunklen
Kontinent“ bezeichnete. Auch von
femininer psychoanalytischer Seite
wurde diese Problematik erkannt und
thematisiert (Christa Rohde-Dachser,
1991).
Eine
fehlende oder nicht ausreichende
soziologische Schulung kann
jedenfalls leicht dazu führen, dass
man die Interaktivität zwischen
individuellen und
gesellschaftlichen, kulturellen Vorgängen
nicht genügend berücksichtigt. Als
Soziologe sieht man das große
Ganze, während man als Analytiker
mehr das Individuelle, Einzigartige
im Fokus hat. Frau Illouz etwa
interpretiert Angst, ausgehend von
einer autobiographischen Erzählung
einer Frau, als Spannung zwischen
dem Verlangen nach Anerkennung und
dem Bedürfnis nach Autonomie. Die
Angst habe in diesem Fall einen „gänzlich
sozialen Charakter“. Abgesehen
davon, dass es auch in dieser
Sichtweise um einen mehr oder
weniger unbewussten inneren Konflikt
geht, wäre die psychoanalytische Klärung
abhängig von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur,
der individuellen
Entwicklungsgeschichte und der
aktuellen Lebenssituation. Das
Symptom wird als Kompromisslösung
eines intrapsychischen Konflikts
gesehen, aber auch als unbewusstes
„Geständnis“. Die soziologische
Deutung blendet vieles aus und
verengt die Perspektive, wird dem
Einzelfall dadurch nicht gerecht. Das
Unbehagen der Feministinnen an Freud
könnte man auch
so erklären, dass die Psychoanalyse
zunächst im
patriarchale
Denken
befangen blieb. Erst durch die
Vertiefungen durch C. G. Jung und
Erich Neumann und die stärkere
Beachtung des Mythologischen und des
kollektiven Unbewussten wurde dies
aufgehoben.
Richtig
erscheint bei Eva Illouz die
Annahme, dass sich „ein
allgemeiner Trend zur Entkoppelung
von Gefühlen und Sex“ etabliert
hat, wobei dies vor allem für Männer
zutrifft, und dass dieses
Vorherrschen einer
„entemotionalisierten Sexualität“
zu größeren Schwierigkeiten führt,
die tatsächlichen Gefühle und
Absichten der jeweils Beteiligten zu
interpretieren. Das Verlangen nach
„sexuellen Erfahrungen“ hat sich
natürlich auch vom klassischen Bild
der Ehe entfernt und sich als
Selbstzweck legitimiert. Eine
sich verstärkende
"Bindungsangst", wiederum
hauptsächlich bei Männern, ist
allerorten festzustellen und
spiegelt sich in statistischen
Erhebungen. Ihre größere
emotionale Distanziertheit kann als
Metapher der männlichen Autonomie
angesehen werden, nachdem ihr Status
durch gesellschaftliche Veränderungen
in gewisser Weise untergraben worden
war. Frauen wiederum fühlen sich
inzwischen stärker als früher
durch die „biologische Uhr“
unter Zeitdruck gesetzt und sehen
einer Art „Verfallszeitpunkt“
entgegen, dem Schließen eines
Zeitfensters, was in Verbindung mit
der vermehrt ihnen anheimgestellten
sozialen
„Aufgabe“ der Reproduktion zu
einem stärkeren Bindungswunsch führt.
Vielleicht ist es wirklich so, dass
Männer die Emotionalität der
Frauen leichter kontrollieren können
wegen deren Bindungsbereitschaft.
Oft ist es ja tatsächlich so, dass
Frauen von den Männern mehr Gespräch
wollen, mehr gemeinsame Zeit, mehr Nähe,
und dass den Männern dies eher lästig
ist und sie auf mehr Abstand
drängen. Eva
Illouz bringt auch einige sehr schöne
Ausführungen über die (vormoderne)
„verzauberte“ Liebe, die
„zugleich spontan und
bedingungslos, überwältigend und
ewig, einzigartig und total“ sei.
Es handle sich um die „völlige
Preisgabe des Selbst gegenüber der
geliebten Person sowie die Möglichkeit
(oder zumindest das Potential) der
Selbstzerstörung und
Selbstaufopferung um jemand anderes
willen.“ Durch die moderne
Rationalisierung der Lebensvollzüge
sei diese
„romantische
Liebe“ allerdings längst
entzaubert worden, entsprechend den
Analysen des Soziologen Max Weber,
der von einer generellen
Entzauberung und Ernüchterung im
Zuge der neuzeitlichen
Verwissenschaftlichung und
Technisierung spricht. Erneut muss
allerdings auch die Psychoanalyse
herhalten, um diesen
Rationalisierungsprozess zu begründen.
Sicherlich kann die
wissenschaftliche Erforschung von
Liebe und Sexualität zu einer
gewissen Ernüchterung beitragen,
aber sie muss die Menschen nicht
daran hindern, „unsterblich“
verliebt zu sein, und die meisten
sehnen sich doch immer noch nach
dieser Art von Liebe.
Dass eine Tendenz zur
Selbstaufopferung heutzutage
skeptisch hinterfragt wird und dass
der persönlichen Autonomie sowie
vernunftgeleitetem Handeln ein hoher
Stellenwert eingeräumt werden, heißt
doch nicht, dass in der Liebe ein
Wunsch nach Entgrenzung und totaler
Hingabe fehl am Platze wäre. Es ist
ein großer Unterschied, ob man
eigene Bedürfnisse immer
hintanstellt und sich für andere
„aufopfert“, etwa im
„Helfersyndrom“, oder ob man
bereit ist, für einen geliebten
Menschen sein Leben hinzugeben.
Die
Selbstentäußerung ist zwar nicht
ganz ungefährlich, aber sie muss ja
nicht beständig sein. Eine Rückbesinnung
und Re-Zentrierung ist
kompensatorisch immer möglich und
auch angezeigt, um eine
„Archaisierung“ der unbewussten
Funktionen und eine drohende
Dissoziation der Persönlichkeit zu
vermeiden.
Natürlich
kann man den Zustand des
Verliebtseins in gewisser Weise als
einen „krankhaften“ oder
„wahnhaften“ Zustand
ansehen, als
eine die Anpassung störende
Projektion, aber doch nur mit einem
Augenzwinkern, denn „Heilung“
ist keinesfalls erwünscht, sie
kommt irgendwann von selbst.
Die
Bindungsangst oder eher
Beziehungsangst der Männer hängt
wohl ebenso und unabhängig von
modernen Entwicklungen mit einer
Besonderheit der männlichen Psyche
zusammen: In der Bewusstseinswelt
des „Logos“ kommt es zu einer stärkeren
Isolierung des Männlichen, im Zuge
einer „gesteigerten Ich- und
Bewusstseins-Bildung und
-Festigkeit“ (Erich Neumann:
„Zur Psychologie des
Weiblichen“, 1986)
Der
Umstand, dass manches Liebesleid
durch überzogene Erwartungen und
dadurch unvermeidlich entstehende
Enttäuschungen zustande kommt,
erscheint ebenfalls als wichtiger
Hinweis, wobei die durch die Medien
belebte und in "hoher Auflösung"
funktionierende Imagination und
fiktionale Vorwegnahme eine
entscheidende Rolle spielen. Die
Realität bringt meist eine gewisse
Ernüchterung, die nur zeitweilig
durch die Idealisierung der
geliebten Person gemildert werden
kann. Insbesondere durch das
Internet wurde die Möglichkeit von
"interaktioneller und
fiktionaler Emotionalität"
geschaffen, verbunden mit der
Aufrechterhaltung von Beziehungen
durch virtuelle, phantomhafte
Anwesenheiten, wobei es teilweise
gar nicht mehr erforderlich ist, der
anderen Person im realen Leben zu
begegnen, ein Triumph der
Imagination!
Es
gibt den Spruch „Wer liebt, hat
immer recht.“ Es handelt sich
dabei wohl um die Abwandlung eines
Ausspruchs von Augustinus: „Liebe,
und dann tu was du willst!“ Die
genau entgegengesetzte Meinung
vertrat Goethe in
„Werthers Leiden“: “Wer
liebt, der hat immer schon
verloren.“ Und in den
„Wahlverwandtschaften“ schrieb
er : „Denn so ist die Liebe
beschaffen, dass sie allein Rechte
zu haben glaubt und alle anderen
Rechte vor ihr verschwinden.„
Nietzsche hingegen meinte: „Was
aus Liebe getan wird, geschieht
immer jenseits von Gut und Böse.“
Für
den Philosophie-Professor Dieter
Thomä gibt es eine einfache Erklärung,
warum in Liebesdingen so oft die
sonst geltenden Regeln verletzt
werden: "In der Liebe geht die
Autonomie des Individuums
verloren". Eine wirklich freie
Entscheidung kann der Liebende
demnach nicht mehr treffen, und es
kann schon mal passieren, dass alle
Sicherungen durchbrennen oder, wie
Freud es formulierte, der Reiter
sich dem durchgehenden Ross überlässt!
In unseren modernen, aufgeklärten
Zeiten muss der Einzelne die große
Spannung zwischen der
Selbstverantwortung und Anpassung
als soziales Wesen einerseits und
der Selbstvergessenheit in der Liebe
andererseits irgendwie ertragen. Natürlich
kann man sich in der Liebe auch täuschen,
sich verirren, blind sein vor Liebe.
Die Ernüchterung und
„Entidealisierung“ lassen nicht
auf sich warten, aus zu viel Nähe
wird spürbare Distanz und manchmal
auch die Trennung, unter Umständen
mit der schon erwähnten Umkehr von
Liebe in Hass und dem jeweiligen
„Rosenkrieg“. Glückt nach der
Krise eine „Wiederannäherung“,
dann kann sich im besten Fall aus
dem Verliebtsein ein Gefühl inniger
Verbundenheit und tiefer
Freundschaft entwickeln, das ein
Leben lang anhält und durch nichts
zu ersetzen ist.
Aber
auch aus den Enttäuschungen ist
viel zu lernen, denn man hat sich ja
im anderen getäuscht, Dinge bewusst
oder unbewusst übersehen,
ausgeblendet, die irgendwann zum
Beziehungsabbruch führen, der um so
schmerzlicher ist, je mehr man in
die geliebte Person „investiert“
hatte. Natürlich sind der Liebe
auch Grenzen gesetzt, selbst wenn
sie danach trachtet, solche zu überschreiten,
und es hat immer wieder Menschen
gegeben, die sich getraut haben,
dies zu tun. Denken wir nur an Romeo
und Julia, wo die Liebe stärker war
als Feindschaft und an Bonnie und
Clyde, das gesetzlose Paar auf der
Flucht. Oder an den Film „Harold
and Maud“, wo der
Altersunterschied der Liebe nicht im
Wege steht. Der Schauspieler und
Autor Burkhard Driest ging so weit,
eine Bank zu überfallen, um einer
geliebten Frau zu imponieren, und
musste dafür zwei Jahre hinter
Gitter. Später meinte er, dass sich
so zwar ein kurzes Glücksgefühl
einstelle, aber echte Liebe und
Respekt ließen sich auf diesem Wege
nicht erreichen. In einem französischen
Chanson heißt es: "Liebesglück
dauert nur einen Moment,
Liebeskummer hingegen ein ganzes
Leben!" ("Plaisir
d`amour" - Jean-Pierre
Claris de Florian).
Eros
gehört in der ursprünglichen
griechischen Mythologie zu den
ersten Göttern. Nyx, die Nacht,
legte in der Ur-Nacht in der Gestalt
eines dunklen Vogels und befruchtet
vom Wind ein silbernes Ei, und aus
ihm trat der Sohn des wehenden
Windes, ein Gott mit goldenen Flügeln,
hervor, der Gott der Liebe, Eros. In
einer anderen Version entstanden aus
dem Chaos, dem „Gähnen“, Gaia,
die Erdgöttin, und Eros, der schönste
unter den Unsterblichen, der die
Glieder löst und den Geist aller Götter
und Menschen beherrscht. Eros wurde
auch gleichgesetzt mit dem
orphischen Schöpfergott Phanes oder
Phaeton, dem „Protogonos“, der
aus dem Welt-Ei hervorging, und
mit Helios, dem Sonnengott. (Karl
Kerényi: „Die Mythologie der
Griechen“ 1994)
Es
gibt einen Schatten des Eros, namens
Anteros.
Er ist der
Bruder des Eros und gleichzeitig der
Gott der Gegenliebe, der Rächer der
verschmähten Liebe. Aphrodite gebar
ihn als Kontrahenten,
da sie annahm, dass ihr Sohn Eros
nur so wachsen könne. Als Rachegott
trägt er den Beinamen Alastor.
Dem Anteros Alastor war nahe der Akropolis
von Athen ein Altar geweiht.
Pausanias erzählt dazu die Legende,
dass ein Athener Bürger namens
Meles die ihm von dem Metöken
Timagoras entgegengebrachte Liebe
nicht nur zurückwies, sondern ihn
auch noch aufforderte, von der
Akropolis zu springen, als Beweis
seiner Liebe, was Timagoras dann
auch tat. Als Meles die Folgen
seines Verhaltens sah, wurde er
derart von Reue geplagt, dass er
gleichfalls von der Akropolis
sprang. Liebe und Hass, Liebe und
Tod sind eng miteinander verbunden.
Höchste Glückseligkeit kann
gefolgt sein von abgrundtiefer
Verzweiflung, etwa durch Zurückweisung,
durch Trennung oder einen zerstörerischen
Rosenkrieg. Schon
Empedokles hatte erkannt, dass Liebe
(philia) und Streit oder Hass (neikos)
die Ursachen allen Weltgeschehens
sind, die in unablässigem Kampf miteinander stehen, in einem
ewigen Siegen und Unterliegen.
Zur
Verknüpfung
zwischen Liebe und Tod gibt es eine
mythologische Grundlage, die im
Mysterienkult von Eleusis zum
Ausdruck kam. Dem
Raub der Kore Persephone durch Hades
entspricht symbolisch die Ablösung
der Tochter von der Mutter (Demeter)
und die Vermählung mit einem Mann
(Thema Brautraub), und dieser
Vorgang wird durch den Abstieg in
die Unterwelt mit dem Tod
gleichgesetzt. Tod insofern, als dem
Schicksal anheimfallend und doch auf
dem Höhepunkt des Lebens stehend.
Darüber hinaus
geht es um das Wissen mit dem Inhalt
„Sein im Tod“. Auch Paris, der
das Angebot von Aphrodite annimmt
und die Liebe wählt, nicht aber
Macht, Reichtum oder Ruhm, erfährt
genau dadurch die Rache der beiden
anderen mächtigen Göttinnen.
Krieg, Zerstörung, Leid und Tod
sind die Folge.
Zusammenfassend
wäre festzustellen, dass man die
Liebe trotz allem wagen sollte, denn
sie gehört zu einem erfüllten
Leben und zu einer gelingenden Individuation, aber man muss sich der
Gefahren bewusst sein, die mit ihr
verbunden sind und auch der
(lohnenden) Mühen, die für ein
Gelingen und ein Überwinden von
Krisen erforderlich sind. Wenn wir es wagen, über die Liebe zu schreiben, so
muss uns bewusst sein, dass es sich
im Grunde um ein Gefühl handelt, ein aktives,
gerichtetes im Sinne von lieben oder
ein passives im Sinne von verliebt
sein. Das Denken und das
begriffliche Formulieren kann das Fühlen nie völlig in seinem
Wesen erfassen, und somit bleibt all
unser Philosophieren nur an der
Oberfläche des Phänomens. Jeder
weiß aber, was gemeint ist, und
kann sich selbst auf seine Art zu
lieben und verliebt zu sein stützen,
um zu begreifen,
was die Worte zu
umschreiben versuchen. Im
weitesten Sinne bedeutet Eros die
Bezogenheit auf das andere, auf die
oder den anderen, sowie die damit
verbundenen Gefühle, Impulse und
Ahnungen. Letztlich
ist Eros ein Numinosum, eine
archetypische
Vorstellung, und
keiner kann das Geheimnis einer
wirklich tiefen Liebeserfahrung voll
erfassen.
„Wer
sich dem nicht hingeben kann, der
hat nie gelebt, und wer darin
untergeht, hat nichts verstanden.“
(Marie-Louise
von Franz)
Sicherlich kann man mit Volkmar Sigusch (2013)
sagen, dass die Liebe in gewisser
Weise eine kulturelle Mystifikation darstellt, aber auch
die unverzichtbarste, da sie sich
der Ökonomisierung unserer
Lebensverhältnisse entgegenstellt,
sowie der zunehmenden sozialen Kälte
und Verdinglichung. Auf die Frage,
wie man denn sicher sein könne,
geliebt zu werden, antwortet
Sigusch: „Wenn du in den Armen
einer anderen sterblichen Person wie
ein kleines Kind weinen kannst, ohne
ein Gefühl der Scham.“
„Ein
Mensch, der nicht durch die Hölle
seiner Leidenschaften gegangen ist,
hat sie auch nie überwunden.“
C.
G. Jung: „Erinnerungen –Träume
– Gedanken“
Narzisstische
Wut und Hass
Einige
Worte zum „Narzissmus“: Meist
denkt man dabei an eine Art
Selbstverliebtheit, die Neigung zur
Selbstbespiegelung und Eitelkeit.
Psychoanalytisch gesehen sind wir
aber hier schon im Bereich des gestörten
Narzissmus oder des Sekundärnarzissmus.
Der sogenannte Primärnarzissmus
hingegen ist in seiner gesunden
Ausprägung eine notwendige
Grundlage des Selbst, das
"narzisstische Selbst", um
sich und andere lieben und annehmen
zu können so wie sie sind und um
Mitgefühl zu empfinden. Es gibt
aber narzisstische Kränkungen und
narzisstische Störungen mit möglicherweise
fatalen Auswirkungen. Die gelungene
Integration des narzisstischen
Selbst in das Ich zeigt sich, gemäß
den Forschungen von Heinz Kohut,
insbesondere in schöpferischer
Begabung und Aktivität, in Einfühlungsvermögen,
in der Fähigkeit, die Begrenztheit
des eigenen Lebens ins Auge zu
fassen, wobei auch die Vergänglichkeit
von Objektbesetzungen und
Trennungserlebnisse miteinbezogen
werden und keine Resignation und
Hoffnungslosigkeit aufkommen
wird,
sondern eine ruhige Gewissheit und
Annahme der Endlichkeit, verbunden
mit einem gewissen inneren Gefühl
des Triumphes, bei gleichzeitiger
unverleugneter Traurigkeit, im Sinn
für Humor, der eine nur dem
Menschen zur Verfügung stehende Möglichkeit
ist, sogar das eigene Ende zu
relativieren, etwa im
"Galgenhumor", und in der
Weisheit,
die insbesondere darin besteht, dass
man die Grenzen der eigenen Kräfte
und Fähigkeiten anerkennt,
und
die alle zuvor genannten
Einstellungen und Eigenschaften der
gereiften Persönlichkeit mit
beinhaltet.
Narzissmus
ist für den Psychoanalytiker nichts
Negatives, im Gegenteil. Er gehört
zur normalen Ausstattung eines jeden
Individuums, und er bildet sich aus
in der frühesten Kindheit, wobei
der liebende Blick der Mutter und
des Vaters oder anderer wichtiger
Bezugspersonen von entscheidender
Bedeutung sind. Dieses „Gespiegeltwerden“
ist die Grundlage des Selbstwertgefühls,
der Selbstachtung und der Liebe zu
sich selbst, also des Narzissmus in
seiner „gesunden“ Ausprägung.
Problematisch wird es, wenn ein
Zuviel oder Zuwenig an Spiegelung
oder Bestätigung stattfinden oder
wenn sogar erhebliche
„narzisstische Kränkungen“ das
Selbst unterminieren. Dann kann es
zu einer krankhaft überhöhten
Selbstwahrnehmung kommen, zu
Fantasien der „Grandiosität“,
um die Gefahr der Entwertung und
entsprechende depressive Gefühle
abzuwehren, oder es kommt zu einer
übersteigerten Empfindlichkeit
gegenüber Kränkungen jeglicher Art
und einer damit einhergehenden
Beziehungsunfähigkeit, da zumindest
kleinere Kränkungen im Umgang mit
anderen nie ausbleiben. Liebe kann
dann sehr schnell in Hass umschlagen,
und der zuvor Idealisierte wird nun
völlig entwertet fallen gelassen
oder sogar verfolgt. Nur
wenn es gelingt, den Symbolwert des
Objekts zu erkennen und die
Projektion zurückzuziehen, ist eine
gelungene Ablösung möglich! Man
kann also jemanden zunächst lieben
und ihn
dann zerstören, um ihn zu
beherrschen.
Gefährlich
wird es zudem, wenn das Subjekt auf
der narzisstischen Stufe stehen
bleibt. Die Selbstzentrierung ist
ein notwendiger Schritt auf dem Weg
zur Autonomie, weg von der
uroborischen Verschmelzung und der
festhaltenden, verschlingenden,
kastrierenden "Großen
Mutter", hin zu
Selbstgestaltung und zunehmender
Ich-Festigkeit.
Im
Mythos verfällt Narkissos, von der
Nemesis bestraft wegen seiner
herzlosen Zurückweisung von
weiblichen und männlichen
Liebhabern, seinem eigenen
Spiegelbild und geht zugrunde.
Er wird das Opfer der Aphrodite, der
"Großen Mutter", die ihn
in seinem eigenen Spiegelbild verführt
und vernichtet. Die sich selbst
spiegelnde Reflexion des Ich, das
sich von der Macht des Unbewussten
befreien will, wird zu einer
Untergang bringenden Selbstliebe
(Erich Neumann
„Ursprungsgeschichte des
Unbewussten.“ 1974). Man könnte
auch von einer Spiegelung der Anima
sprechen, die als Projektion auf
eine geliebte Person immer auch mit
dem Selbst verbunden ist.
In
der hermetischen Philosophie
wiederum gibt es die Vorstellung vom
"himmlischen Anthropos", dem
"Lichtmenschen" der Gnosis, der sich im
Wasser, in der dunklen Materie
spiegelte, und sich in sie, in die
"niedere Natur",
verliebte. Diese wiederum verliebte
sich in ihn, und so vereinigten sich
beide.
Die Vereinigung zwischen Himmel und Erde und deren anschließende Trennung sind Bestandteil zahlreicher Schöpfungsmythen.
Bei
Otto F. Kernberg und insbesondere
bei Heinz Kohut finden sich Ausführungen
über die Störungen des Narzissmus,
wobei der letztere sich speziell zur
"narzisstischen Wut" geäußert
hat: "Der narzisstisch Gekränkte
aber kann nicht ruhen, bis er den
unscharf wahrgenommenen Beleidiger
ausgelöscht hat, der wagte, ihm
entgegenzutreten, nicht mit ihm übereinzustimmen
oder ihn zu überstrahlen."
Entwertung bedeutet also eine unverhältnismäßig
negative Bewertung eines Objektes
oder einer Objektrepräsentanz zum
Zweck der Erhöhung oder
Stabilisierung des eigenen
Selbstbildes. In diesem Zusammenhang
verweist Kohut zudem auf das
Rachethema und dessen literarische
Verarbeitung in den Werken des
Heinrich von Kleist "Michael
Kohlhaas", wo von "schäumender
Wut" die Rede ist, von der
"Hölle unbefriedigter
Rache" und vom zunehmenden Größenwahn
des Gekränkten, dessen Frau und er
selbst letztlich umkommen, und
Herman Melvilles "Moby
Dick": Kapitän Ahab verfolgt
so lange seinen
"Intimfeind", den großen
Wal, bis er selbst und sein Schiff
untergehen. Auch in Kleists
"Penthesilea" geht es um
rasende Wut, die im Kampf gegen den
eigentlich geliebten Achilles
letztlich zu dessen Zerfleischung
und Vernichtung führt, wobei es die
Herrscherin der Amazonen erst gar
nicht glauben will, dass sie für
diese Tat verantwortlich ist und
sich schließlich selbst richtet, um
dem Geliebten in den Tod zu folgen.
Alles passierte wie in einem Traum,
aus dem sie erwacht und zunächst
bei anderen die Schuld sucht. Im
Mythos war es allerdings Achill,
der Penthesilea im Kampfe mit dem
Schwert erschlug, sich in sie
verliebte, als er ihr den Helm
abnahm und seine Tat bedauerte. Der
Autor Navid Kermani (2012) meint,
dass es sich bei Kleists Penthesilea
auch um die Inszenierung einer
archaischen Form von Liebe handelt,
um Besitzergreifung, Machtausübung,
um ein Sich-einverleiben-Wollen des
Andern bis hin zum kannibalischen
Akt. "Sie will ihn mehr als nur
mit Leib und Leben besitzen, sie
will ihn ganz und gar in sich
aufnehmen..." Die Abspaltung
der Penthesilea geht überdies noch
weiter, da sie nicht nur das eigene
Handeln verleugnet, sondern
auch noch von zwei Tätern ausgeht:
einer, der Achill ermordete und ein
anderer, der ihn verschlang. Dem
einen will sie vergeben, aber dem
anderen nicht, da sie in ihm einen
Nebenbuhler sieht, der Achill
geliebt haben muss. Kermani sieht
sogar einen Bezug zum Abendmahl:
"Nehmt, das ist mein Leib! Das
ist mein Blut!" Kleist
vergleiche Achill mit Christus:
"Ach, diese blutgen Rosen! Ach,
dieser Kranz von Wunden um sein
Haupt!"
In
der griechischen Mythologie gibt es
eine beispielhafte Geschichte über
die der narzisstischen Wut
zugrundeliegende Kränkung. Die Götter
waren zwar unsterblich, aber doch
verwundbar, und Homer berichtet von
Hera und ihrem unheilbaren Leid,
nachdem ein Pfeil des Herakles sie
an der Brust verletzt hatte. Karl
Kerényi ("Prometheus")
geht davon aus, dass Homer und
nachfolgende Dichter weniger den körperlichen
Schmerz meinten, sondern ein
"ewiges Beleidigtsein“, die
„unheilbare Wunde im Herzen der göttlichen
Juno" (Vergil), wobei die
menschliche Verwundbarkeit im Mythos
auf das Göttliche projiziert
erscheint.
Und Reinhard Haller erwähnt in
seinem Buch „Die Macht der Kränkung“
(2015) ganz richtig, dass bei
narzisstisch Gestörten die
Nachhaltigkeit von Kränkungen ganz besonders
ausgeprägt sei.
In einer Geschichte aus dem kretischen Mythos
richtet sich die narzisstische Wut
gegen denjenigen selbst, der die
Liebe eines
anderen verschmäht und ihn
durch scheinbar unlösbare Aufgaben
in den Tod schicken will:
„Erster-in-der-Schlacht und
Blond-Mähne“ (Andrew Calimach,
2014). Ein egozentrischer Jüngling, der sich gegenüber
der Liebe eines tapferen Mannes
unempfänglich zeigt, wird von Eros
bestraft und begeht am Ende
Selbstmord. Calimach schließt
daraus, dass in der griechischen Päderasten-Tradition
die Weigerung eines Jungen, sich auf
Liebesaffären mit guten Männern
einzulassen, als Affront gegen den
Gott der Liebe und als virtueller
Selbstmord angesehen wurde.
Kohut
spricht von der möglichen
Ausbildung einer "chronischen
narzisstischen Wut", die er als
die Entwicklung eines "der bösartigsten
Übel des menschlichen
Seelenlebens" ansieht, als eine
die ganze Persönlichkeit
durchdringende Haltung. Diese kann
dann zu wohlorganisierten Feldzügen
führen, die als Ausdruck einer
endlosen Rachsucht mit endloser
Leidenschaft in Gang gehalten
werden. Es geht um Machtausübung
(Omnipotenz) und Gewalt, um absolute
Kontrolle und Beherrschung des
Selbstobjektes. Von
Konfuzius stammt der Ausspruch:
„Bevor du dich
auf eine Reise der Vergeltung
begibst, hebe zwei Gräber aus.“
Die TV- Serie „Revenge“ (2011)
stellte diese Worte an den Beginn
und zeigt, wie Unrecht mit immer
wieder neuem Unrecht begegnet wird
und ein Kreislauf der Zerstörung in
Gang kommt, wenn es nicht um
Vergebung, sondern um Vergeltung
geht. Die
Philosophin Martha
Nussbaum meint in ihrem Buch „Zorn
und Vergebung. Für eine Kultur der
Gelassenheit“ (2017), dass Rache
und Vergeltung dem magischen Denken
entspringen, nämlich der
Vorstellung, dass dadurch erlittenes
Unrecht wieder geheilt werden könne.
In diesem
Zusammenhang soll daran erinnert
werden, dass es in der Geschichte
immer wieder dazu kam, dass
bestimmte Menschen oder Gruppen
entwertet oder gar entmenschlicht
wurden, und wohin das führte!
Narzisstisch gestörte Machthaber
haben Völker und fast die ganze
Welt ins Chaos gestürzt, mit
unendlich viel Leid und Zerstörung!
Kennzeichnend für narzisstisch Gestörte
ist vor allem das völlig fehlende
Mitgefühl und Einfühlungsvermögen,
insbesondere gegenüber der Person,
gegen die sich die Wut richtet, ohne
Rücksicht auf die Folgen und mögliche
Kollalateralschäden. Sie können
nicht das geringste Verständnis für
ihre Gegner aufbringen!
Der
Theologe Karl Rahner hat den
Narzissten mit einem Ofen
verglichen, der nur sich selbst wärmt.
Für andere bleibt nichts mehr übrig!
Fehlende
Empathie einer Mutter gegenüber den
Bedürfnissen eines Kindes kann bei
diesem ebenfalls zu einer
narzisstischen Störung führen! Es
wird berichtet, dass bei manchen
Soziopathen zwar ein stark ausgeprägtes
Gespür vorhanden zu sein scheint für
das, was in anderen vorgeht, aber es
handelt sich hierbei nicht um Mitgefühl
oder gar Mitleid, und diese Fähigkeit
wird ausschließlich zum eigenen
Vorteil genutzt. Man muss also mit
Paul Ekman (2011) wohl unterscheiden
zwischen einer rein „kognitiven“
und einer „emotionalen“
Empathie. Bei ersterer erkennt man,
was der andere fühlt, bei letzterer
fühlt man, was der andere fühlt.
Die
Untersuchungen des französischen
Hirnforschers Christian Keysers bez.
der Spiegelneuronen legen wiederum
nahe, dass manche Menschen die Fähigkeit
haben, Empathie beliebig an- und
auszuschalten. Bei
„Psychopathen“ sei sie in der
Regel ausgeschaltet, aber sie können
sich sehr gut in andere einfühlen,
wenn es darum geht, sie für ihre
Zwecke zu manipulieren. Auch die
Angehörigen bestimmter
Berufsgruppen sollen demnach gelernt
haben, das Mitgefühl zeitweilig
auszuschalten, etwa Zahnärzte,
sinnvollerweise.
Störungen
des Narzissmus lassen sich
behandeln, und sie sind Bestandteil
von vielen psychischen Störungen,
insbesondere der Persönlichkeitsstörungen
und der Depression. Wichtig ist die
"korrigierende Erfahrung",
also die zuverlässige Bestätigung
und Wertschätzung durch einen
anderen Menschen oder den
Psychotherapeuten, der ja wie ein
Spiegel wirken soll, in dem sich der
andere findet und neu konstituiert. Auf
diese Weise ist es möglich, die
„ontologische Verankerung"
(Simon May) herzustellen, nämlich
das Gefühl, in der Welt zu Hause zu
sein.
Es gab zuletzt einige Publikationen über die
narzisstische Persönlichkeitsstörung,
darunter auch Bestseller. Eine davon
ist betitelt: „Rote Karte für
Narzissten: Beziehung und Trennung
überleben.“ Die Autorin heißt
Dr. Claudia Schlembach. Das Buch könnte
interessant sein, aber es wird alles
aus der Perspektive einer Frau
gesehen, nach dem bekannten Muster:
Männer sind Täter, Frauen sind die
Opfer. Es ist nur ein einziges Mal
von narzisstischen Frauen die Rede,
und zwar im Zusammenhang mit Paaren
von zwei Narzissten, die jedoch eher
selten sein dürften, da der oder
die narzisstisch Gestörte sich ja
in der Regel einen Partner sucht,
der lieber gibt als nimmt, wie es
richtig beschrieben wird. Wäre das Buch eine Art
von Autobiografie, könnte man das
noch nachvollziehen, aber die Dinge
werden verallgemeinert, und es ist
immer nur die Rede von „ihm“.
Richtiger wäre es gewesen, vom
narzisstischen Partner zu reden,
ohne Festlegung auf Mann oder Frau.
So aber ist das Buch einseitig und
tendenziös, leider! Die Autorin hat
offenbar auch mehr Ahnung von
Business und Verkaufstaktiken als
von Psychologie und insbesondere
Psychopathologie. In einem persönlichen
Austausch schrieb mir die Autorin,
dass sie ganz bewusst nur einen männlichen
Narzissten vorstellen wollte, ohne
diskriminierende Absicht! Über den
weiblichen Narzissmus und den
„Hunger nach Anerkennung“ hat u.
a. Bärbel Wardetzki geschrieben,
die in ihrer Arbeit mit bulimischen
Frauen auf dieses Phänomen gestoßen
ist.
Es
war hier noch nicht die Rede von den
großen narzisstischen Kränkungen
der Neuzeit, aus einer übergeordneten
Perspektive betrachtet. Zu nennen wäre
einmal die „kopernikanische
Wende“, die den Mittelpunkt nicht
mehr länger in der „Welt“ sah,
sondern zunächst im Zentralgestirn,
ganz zu schweigen vom Kosmos, in dem
wir nur ein Staubkorn sind. Dann die
darwinsche Lehre von der
„Abstammung der Arten“, als die
Menschheit erkennen musste, dass sie
gar nicht so weit entfernt ist vom
Tierreich und lediglich zu den höheren
Säugetieren gehört. Und schließlich
die Erkenntnisse von Sigmund Freud,
dass wir gar nicht Herr im eigenen
Hause sind, sondern vom Unbewussten
weitgehend gesteuert werden. Für
das Selbstverständnis und das
Selbstbewusstsein der Menschen waren
dies harte Schläge, die längst
nicht verarbeitet sind und zu Recht
eine Haltung der Demut und
Besonnenheit bedingten, die schon
die antiken Denker anmahnten. Der
Philosoph Heiner Mühlmann nennt in
„Natur der Kulturen“ (1996) noch
weitere Kränkungen, wie die
Quantentheorie, die künstliche
Intelligenz, die Genetik, die Ökologie,
um nur einige zu nennen. Der
„kulturelle Narzissmus“ musste
immer wieder ins Gleichgewicht
gebracht werden durch
kompensatorische Mechanismen und
Neuinterpretationen der Stellung des
Menschen in der Welt und im Kosmos.
Die metaphysisch begründete Selbstüberhöhung
und der Glaube an eine
Sonderstellung im All werden durch
die Kränkungen hinfällig. Dies
sollte zu einer Verringerung von
zwischenmenschlichen Konflikten und
zu mehr Solidarität und
Zusammenhalt führen. Davon ist
bisher leider nicht viel erkennbar! Um
dies zu begreifen, muss man keine
sich verselbstständigenden
„Makrostrukturen“ und kein
„kulturelles Hypersubjekt“,
mit aggressiver und übermächtiger
Dynamik postulieren. Ein plausibles
Erklärungsmodell bietet C. G. Jung
mit seiner Annahme des kollektiven
Unbewussten und der Konstellierung
von Archetypen, die ganz unabhängig
vom rationalen Erfassen das
Verhalten von Menschen und
Gesellschaften beeinflussen.
Diese Annahmen wurden von Mircea
Eliade („Kosmos
und Geschichte. Der Mythos der
ewigen Wiederkehr.“ 1949) bestätigt,
der etwa im Mythos der
aus mittelalterlich skandinavischen Quellen bekannten
„berserkir“
oder
„beriserkre“, der
mit
einem Bärenfell bekleideten „wilden Krieger“, das Urbild des
„furor“, der rauschhaften,
„heiligen Wut“ verkörpert
sieht. Er weist darauf hin, dass
jeder Konflikt, jedes Duell und
jeder Krieg keinesfalls
rationalistisch zu erfassen seien,
sondern dass immer die rituelle
Bedeutung und die damit verbundene
Belebung eines Archetypus berücksichtigt
werden müssen. Der Krieger ahmt
einen "Heros" nach und
versucht, sich diesem Vorbild so
weit wie möglich anzunähern. Durch
jede Wiederholung einer
archetypischen Handlung wird die
„profane Zeit“ aufgehoben, und
der Handelnde wird Teilhaber der
mythischen Zeit. Es handelt sich um
die Suche nach dem wirklichen und
wahren Sein und um die Angst, in die
Bedeutungslosigkeit einer profanen
Existenz zu versinken. Diese
Erkenntnisse gewinnen gerade aktuell
eine große Bedeutung hinsichtlich
des „Heiligen Krieges“ von
radikalen Islamisten!
„Heilige Wut“ erfasste auch
Moses, gemäß der in erster Linie
symbolisch zu verstehenden
Sinaigeschichte, als er sein Volk um
das goldene Kalb tanzen sah und ein
Massaker an den Abtrünnigen
anordnete. Die Gefahr von gewaltförmigen
Auswüchsen bei religiösen Überzeugungen
wird hier ersichtlich, vor
allem, wenn von „Auserwählung“
und Singularität die Rede ist.
Anzumerken ist hier allerdings, dass
es Vorformen des Krieges schon bei
den Schimpansen gibt. Jane Goodall
entdeckte, dass diese manchmal überfallartig
Mitglieder benachbarter Gruppen
angreifen, um sie zu töten. Innerhalb
der Gruppe finden Aggressionen
hauptsächlich zwischen
rivalisierenden Männchen statt.
Schuldfähigkeit
und der freie Wille
Der
amerikanische Neurowissenschaftler
David Eagleman erforscht die
Verhaltenssteuerung und die
Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung,
Bewusstsein und Handeln, wobei die
Relevanz für die Rechtssprechung
und das Umgehen mit Straftätern
aller Art auf der Hand liegt. Die
neuesten Forschungsergebnisse bestätigen
zum Teil eindrucksvoll die Theorien
von Sigmund Freud, relativieren sie
aber auch teilweise, etwa im
Hinblick auf das „Ich“. Eagleman
jedenfalls betrachtet das „Ich“
nur noch als ein Märchen. Es gebe
eher ein „Wir“, und unsere
Handlungen seien das Ergebnis von
„inneren Verhandlungen“, bei
denen verschiedene neuronale
Schaltzentren miteinander
interagieren und wir „einen
gewissen Einfluss“ auf das
Endergebnis haben, mehr nicht. Wir
sind also sozusagen nur „am Rande
des Universums“, wobei er den
Vergleich mit der Kosmologie wählt,
nicht im Mittelpunkt, und bekommen
relativ wenig mit vom Geschehen.
Unser Eindruck, dass wir die
Kontrolle haben und eigene
Entscheidungen treffen können, wäre
demnach nur eine Illusion. Im Umgang
mit Straftätern wird entsprechend
immer weniger der Aspekt des
Bestrafens, der Sühne, der
Abschreckung und der damit
verbundene Bezug zur Ethik im
Vordergrund stehen dürfen, sondern
die Frage des Helfens und
Therapierens, wobei natürlich der
Schutz der Allgemeinheit weiterhin
eine wichtige Rolle spielen wird,
wie auch eine angemessene
Wiedergutmachung.
"Therapieren" sollte nicht
mit Zwangspsychiatrisierung
verwechselt werden! Das
"gesunde Volksempfinden"
sollte jedenfalls nicht die
Richtschnur der Gesetzgebung sein!
Vor allem die Begriffe Schuld und
Verantwortung müssen neu überdacht
werden und damit einhergehend natürlich
auch die Begriffe Schuldfähigkeit
bzw. Schuldunfähigkeit. Es geht
hier wohl um Grenzbereiche zwischen
Naturwissenschaft und Philosophie,
und man könnte Eagleman wie auch
anderen Hirnforschern vorwerfen,
dass sie ihre Kompetenzen überschreiten.
Man spricht in diesem Zusammenhang
von „Reduktionismus“, von einem
„Kategoriensprung“ zwischen
Materiellem und Mentalem. Einwenden
kann man insbesondere, dass die
unter Laborbedingungen untersuchten
Handlungsabläufe nicht unmittelbar
auf komplexe Entscheidungen im
Alltag wie etwa die Berufswahl übertragen
werden können. Zwischen Absicht,
Planung und Ausführung liegen hier
längere Zeiträume. Es handle sich
um einen „Kategorienfehler“ zu
sagen, „das Gehirn“ entscheide
und nicht der Mensch, denn schon
Aristoteles wies darauf hin, dass es
falsch sei, zu sagen „die Seele
ist zornig“. Richtig sei vielmehr:
„Der Mensch ist zornig kraft
seiner Seele“. Also müsste es heißen:
Der Mensch entscheidet mittels
seines Gehirns, oder wie es der
Hirnforscher Gerhard Roth (2004)
formuliert: „Das Gehirn nimmt die subjektiv
empfundene Entscheidung vorweg.“
Er schätzt,
dass uns weniger als 0,1 Prozent
dessen, was das Gehirn tut, aktuell
bewusst wird! Der enorme Rest wird
unbewusst erledigt. Das
Unbewusste
kann somit eine Vielzahl von
Informationen gleichzeitig
verarbeiten.
Der Neurowissenschaftler Lüder
Deeke, der 1964 als Student das
„Bereitschaftspotential“
entdeckte, hat mittlerweile
Experimente mit Bungeespringern
durchgeführt und kommt zu dem
Schluss: „Mein Gehirn kann nicht
gegen mich sein. Mein Gehirn – das
bin doch auch ich!“ Hatte er ursprünglich
das
„Bereitschaftspotential“
als unbewussten Vorgang angesehen,
so belehrten ihn die neuen Befunde
eines Besseren. Was natürlich nicht
heißen muss, dass es keine
unbewussten Vorgänge gibt!
Der Sozialpsychologe John
Bargh („Vor dem Denken“ 2017)
konnte in seinen Untersuchungen die
Macht unbewusster Vorgänge,
kultureller Prägungen und
unseres evolutionären Erbes
aufzeigen, schloss aber bewusste
Kontrolle nicht aus. Die Frage sei
letztlich, in wie weit unser
Verhalten von
„innen“ gesteuert wird.
Dem Bewusstsein falle es allerdings
sehr schwer, anzuerkennen, dass
andere Kräfte mit im Spiele sind. Interessanterweise
scheinen gerade jene, die unbewusste
Faktoren am stärksten leugnen, am
anfälligsten zu sein für
Manipulation. Wichtig sei die Zeitdimension:
„der Geist“ existiere, wie das
gesamte Universum, gleichzeitig in
Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, wobei diese teilweise im
Verborgenen liegen, in einer Art
multidimensionaler Zeitschleife.
Leider definiert der Autor den
Begriff „Geist“ nicht, ,
und seine Absicht, „das wahre
Wesen des menschlichen Geistes
aufzudecken“, ist wohl eine Art
von Hybris,
und auch ihn könnte die Nemesis
ereilen! Seine Kritik an der Psychoanalyse und
Freud ist (wieder einmal) zu
oberflächlich, etwa wenn
er behauptet, Freud habe das
Unbewusste als ein unangepasstes
System angesehen.
Seinen
Traum vom Alligator, der aus dem
Sumpf und dem schwarzen Wasser
auftaucht, könnte man noch ganz
anders deuten, als der Autor es tut.
Es geht zwar auch, aber nicht nur um
das Unbewusste, welches zuerst da
ist, sondern vor allem um eine
archetypische Vorstellung, die mit
dem Schöpfungsmythos zu tun hat, ähnlich
wie die Schildkröte, und die bei
den Ägyptern als
Wasser- und
Fruchtbarkeitssymbol heilig war
(Gott Sobek mit Krokodilskopf). Das
Krokodil kann andererseits als
Symbol negativer, aggressiver
Impulse gesehen werden.
Interessant
in diesem Zusammenhang ist, dass die
Iatmul auf Neuguinea glaubten, dass
ein Krokodil auf den Grund des
Urmeeres tauchte, Schlamm empor
holte und aus diesem eine Insel
formte. Dies erinnert an das Bild,
das C. G. Jung gebrauchte, um die
Beziehung zwischen dem Bewussten und
dem Unbewussten darzustellen: eine
kleine Insel inmitten
des Ozeans.
Symbolisch wäre demnach das
Krokodil
für die Entstehung des Bewusstseins
verantwortlich! Auch in einer Krokodillegende
aus Osttimor („Das
gute Krokodil“) entsteht eine
Insel, und das Krokodil erweist sich
als hilfreiches Tier! Die
Tolteken (Mexiko) glaubten an
Cipactli, erst Fisch, dann
Krokodilungeheuer, eine dunkle
Fruchtbarkeitsgöttin, die nach
Menschenherzen und Blut verlangte,
Ursprung der Menschenopfer Aus ihr
entstand die Welt nach der
Aufspaltung durch die zwei göttlichen
Schlangen in Erde und Himmel.
Möglicherweise
ist dem Autor also die tiefer
liegende und weiter gehende
Bedeutung nicht klar geworden, da er
sich mit der naheliegenden
Sinngebung zufrieden gab.
Grundsätzlich
kann festgehalten werden, dass das
Wollen als Willensakt, der einer
bewussten, zielgerichteten Tätigkeit
vorausgeht, ein beobachtbares
psychisches Phänomen ist, die
Willensfreiheit dagegen nicht. Sie
ist nur als Überzeugung oder Glaube
eine beobachtbare Erscheinung und
gehört somit
vor allem
in den Bereich der reinen
Geisteswissenschaft, insbesondere
der
Philosophie. Kaum
jemand weiß, dass bis ins 16.
Jahrhundert und sogar noch 1916 und
1994 auch Tiere vor Gericht gezerrt
und abgeurteilt wurden, und man
ihnen somit Schuldfähigkeit
zusprach, auch wenn es angeblich nur
dem biblischen Auftrag entsprochen
habe, sich die Erde untertan zu
machen. Historiker vermuten
allerdings, dass Allmachtsfantasien
von übereifrigen Juristen die
Ursache waren, die alles dem Recht
unterordnen wollten. Passend dazu
praktizierte die katholische Kirche
zu dieser Zeit noch Tierbannungen
und Exorzismen.
Analog
zur Willensfreiheit wurde seitens
der Verhaltenspsychologie, etwa von
Skinner und von Kahnemann, auch die
Autonomie als eine Erfindung und
Anmaßung angesehen, die letztlich
zu Denkfehlern, fehlerhaftem
Verhalten und falschen
Entscheidungen führten. Durch eine
geeignete Verhaltensanalyse und
-kontrolle müsse den
Menschen
demnach „geholfen“ werden, um
das Irrationale auszuschalten und
sie so "umzuformen".
Die
politische Umsetzung des „libertären
Paternalismus“ ließ nicht lange
auf sich warten, und eine staatliche
Bevormundung und Missachtung der
individuellen Autonomie waren die
Folge!
Das Thema des
"freien
Willens" wurde
bereits von Kant ausgiebig
behandelt, und er ging u.a. von
einem „a priori“ aus, dass also
der sog. kategorische Imperativ unserem Bewusstsein unmittelbar und
absolut gegeben sei. Wir sollen nur
nach Grundsätzen handeln, die wir
auch verallgemeinern und die
Allgemeingültigkeit beanspruchen könnten.
Der Mensch hat zudem als solcher
einen absoluten Wert und darf
niemals nur als Mittel, sondern immer
auch als Zweck behandelt werden. Die
Willensfreiheit oder die
„Autonomie des Willens“ besteht
demnach in der Fähigkeit, sein
Handeln nach diesem inneren Gesetz
auszurichten, indem der Wille keinem
fremden, sondern dem eigenen Gesetz
folgt. Es gibt logischerweise einen
Unterschied zwischen Handlungen, die
von außen erzwungen werden und
solchen, die dies nicht sind. Bleibt
die Frage, inwieweit die
„freien“, „autonomen“
Handlungen nicht doch ebenfalls
weitgehend „bedingt“ sind. Kant
ging davon aus, dass unser Verhalten
zwar einerseits durch empirisch
fassbare, physikalische, biologische
und andere Faktoren, sowie im Rahmen
der Kausalität zu erklären sei,
dass es aber darüber hinaus den „intelligiblen“
Bereich der Vernunft gebe, und nur
von diesem Standpunkt aus sei der
Mensch frei, indem er sich eben über
die „Sinnenwelt“ erhebe und von
ihr unabhängig mache. „Denn
jetzt sehen wir, dass, wenn wir uns
als frei denken, so versetzen wir
uns als Glieder in die
Verstandeswelt und erkennen die
Autonomie des Willens, samt ihrer
Folge, der Moralität.“ Das
Thema „Freiheit“ stand im
Mittelpunkt des Denkens von Kant. Er
nannte sie ein „unerhörtes
Mysterium“, und das Nachdenken darüber
habe ihn aus seinem „dogmatischen
Schlummer“ geweckt. In einem Brief
schrieb er: „Der Mensch ist frei
und dagegen: es gibt keine Freiheit,
alles ist naturgesetzliche
Notwendigkeit.“
Will heißen: Wir leben gleichzeitig
im Reich der
Notwendigkeit und in
dem der Freiheit.
Als
„Erhabenes“ sah er neben dem
Sternenhimmel als dem Reich der
Notwendigkeit das innere, moralische
Gesetz als Reich der Freiheit.
Die
Frage des „Determinismus“ wird
schon sehr lange kontrovers
diskutiert, und letztlich werden wir
keine absolut gültigen Erkenntnisse
diesbezüglich erlangen. Dass unsere
„freien“ Entscheidungen mit größter
Skepsis zu beurteilen sind, dürfte
aber jedem klar sein, und dieser
Umstand sollte nicht nur bei der
Frage der Schuldfähigkeit von
Belang sein, wobei auch
Zwischenstufen bez. der Polarität
„voll schuldfähig“ bis „nicht
schuldfähig“ zu berücksichtigen
wären, sondern auch hinsichtlich
der subjektiven
Gewissensentscheidung des „Täters“:
inwieweit war er sich der
„Schuldhaftigkeit“ seines
Handelns bewusst, also nicht nur im
Hinblick auf die Normverletzung
sondern auch auf die persönliche
Einschätzung der Tat? Vor 1973 wäre
ein „Täter“ wegen eines
homosexuellen „Vergehens“ gemäß
§ 175
angeklagt worden und hätte
sich bei der „Tat“ durchaus der
Normübertretung bewusst sein müssen.
Gleichzeitig hätte er aber auf
seine Gewissensentscheidung und das
unbedingte „innere Gesetz“
pochen können, die ihm kein
schuldhaftes Verhalten attestierten.
Schon
Sokrates
berief sich auf sein Gewissen und
stellte es über den Volkssouverän:
"Seine Weigerung, dem Volke
seine Unterwürfigkeit gegen dessen
Macht zu bezeigen, führte die
Verurteilung zum Tode herbei."
(Hegel:
Vorlesungen
über die Geschichte der
Philosophie, Band I, Leipzig 1982).
Heutzutage kann man den § 175
selbst als immoralisch ansehen, da
er gegen Grundrechte und die Achtung
des Menschen verstößt, wie auch
die „Nürnberger Gesetze“ zur
„Rassenschande“ im Dritten Reich
und die ähnlichen Apartheid-Gesetze
in Südafrika. Jemand, der sie übertrat
und dafür bestraft wurde, wird im
Nachhinein als Held angesehen. Natürlich
könnte man einwenden, dass sich
theoretisch jeder Straftäter, auch
ein Mörder und Erpresser, auf sein
Gewissen berufen könnte und es dann
schwierig wäre, das Gegenteil zu
beweisen. Das Tatmotiv wird aber
ohnehin schon berücksichtigt, etwa
wenn ein Vergehen „aus niederen
Beweggründen“ begangen wurde oder
„mildernde Umstände“ vorliegen,
wobei diese Begriffe natürlich
ebenfalls zu hinterfragen wären und
bei einer angenommenen
tatsächlichen Unfreiheit des
Willens obsolet wären. Wenn jemand
in der Nachkriegszeit Kohlen klaute,
um heizen zu können, so wurde dies
sogar von hoher kirchlicher Stelle
aus als moralisch gerechtfertigt
angesehen, woraus dann der Begriff
„Fringsen“ entstand. Es waren ja
hier offensichtlich keine niederen
Instinkte im Spiel, sondern
existenzielle Bedürfnisse.
Eine
interessante rechtsphilosophische
Untersuchung zu dieser Thematik hat
Prof. Reinhard Merkel 2008
vorgestellt mit dem Titel
„Willensfreiheit und rechtliche
Schuld“. Er unterscheidet dort
Willensfreiheit und
Handlungsfreiheit. Letztere ist
ohnehin begrenzt schon durch die
Gesetze der Physik, etwa wenn wir
uns in die Luft erheben und womöglich
fliegen wollen, ohne Hilfsmittel,
macht uns die Schwerkraft einen
Strich durch die Rechnung. Es soll
zwar „Levitationen“ gegeben
haben, aber es handelte sich wohl
„nur“ um mystische Erfahrungen.
Man sagt ja auch, „jemand hebt
ab“, in einem „Höhenflug“ der
Gedanken und Gefühle. Merkel kommt
zu dem Schluss, dass es wohl so sein
mag und er auch dahin tendiere, dass
die Willensfreiheit oder besser
Entscheidungsfreiheit oder
Selbstbestimmung nur eine Illusion
ist und man mit andern Philosophen
zu dem Schluss kommen könne, die
Willensfreiheit bleibe ein
Mysterium. Zu lösen sei aber das
Problem der Normverletzung und deren
„Reparatur“, ohne die eine
rechtsstaatliche Gesellschaft nicht
auskommen könne, solange nichts
Besseres gefunden wird. „Das
Strafrecht institutionalisiert die
reaktiven Einstellungen der
Rechtsgemeinschaft auf den Bruch
ihrer grundlegenden Normen.“ Ein
rein präventives Strafrecht wäre
insofern nicht ausreichend, also
wenn man den Täter nicht als
schuldig, sondern „nur“ als
krank und behandlungsbedürftig ansähe.
Ohne die Sanktion und somit die
Bestrafung komme man folglich nicht
aus. Man müsse aber den § 20 des
Strafgesetzbuches, der die Umstände
der Schuldunfähigkeit regelt,
dahingehend ändern, dass die
Voraussetzungen der normalen Schuldfähigkeit,
die im Wortlaut des Paragraphen nur
erschließbar sind, dahingehend neu
formuliert werden, dass der Täter
zum Tatzeitpunkt „normativ
ansprechbar“ gewesen war, im
Gegensatz etwa zu einem
Geisteskranken, der tatsächlich als
schuldunfähig anzusehen und somit
nicht zu verurteilen sei. Merkel räumt
ein, dass Normschutzerwägungen
utilitaristischer Provenienz seien,
aber dies wäre angesichts des hohen
Stellenwerts der Sicherung der
Normenordnung für unser
Gesellschaftssystem gerechtfertigt.
Der Staat sei der Garant der
Normgeltung und einer
Friedensordnung zwischen seinen Bürgern.
Anders gesagt: die Menschen müssen
versuchen, sich mittels des
Strafrechts voreinander zu schützen.
Dass ein Gesetz zur Farce werden und
die Autorität des Staates schwächen
kann, konnte man zur Zeit der
Prohibition in den USA beobachten.
Es war die Zeit der „Gesetzesspötter“,
denn es wurde sogar illegal Alkohol
ins Weiße Haus geliefert, und die
Mafia konnte sich freuen über
sagenhafte Gewinne!
Der
eher indeterministisch und
kompatibilistisch (Willensfreiheit
und Zuschreibung von
Verantwortlichkeit und Schuld wird
als kompatibel mit einer möglicherweise
deterministischen Weltordnung
angesehen) orientierte Psychiater
und forensische Gutachter Prof.
Hans-Ludwig Kröber drückt es in
Anlehnung an Kant so aus: „Wir
sind strafrechtlich verantwortlich,
wenn wir imstande sind, unsere
Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen
abhängig zu machen, wenn wir also
imstande sind, unsere Wünsche
kritisch zu bewerten.“ Der Begriff
„Verantwortung“ bringt nun noch
ganz andere Implikationen mit sich,
über die man natürlich nachdenken
sollte und die man nicht einfach
beiseite schieben darf. Ein schöner
Satz hierzu lautet: „Es wird uns
nicht zugerechnet, weil wir frei
sind, sondern wir sind frei, weil
uns zugerechnet wird.“ Einigung
kann vielleicht erzielt werden, wenn
man von einer „praktischen“
Verantwortung spricht.
Zumindest das bewusste und
nicht psychotische und nicht durch
einen übermächtigen Affekt überwältigte
Ich kann sinnvollerweise und aus
"taktischen" Gründen für
sein Handeln verantwortlich gemacht
werden, selbst wenn es letztlich gar
nichts dafür kann. Auch in der
Politik trägt letztlich der
Ressortchef die Verantwortung für
Dinge, die in seinem Ministerium
„verbockt“ worden sind, und muss
die Konsequenzen tragen, auch wenn
er selbst nicht direkt
„schuldig“ sein mag. Die
Verantwortlichkeit für unser
Handeln ist ein Grundprinzip der
Erziehung und impliziert auch die
Verantwortung für sich selbst.
Dieses ethische Prinzip scheint ein
Grundpfeiler unseres
gesellschaftlichen Zusammenlebens zu
sein und muss wohl unabhängig von
der Frage der Willensfreiheit und
Schuld betrachtet werden. Ausführlich
hat sich u.a. der Philosoph Michael
Pauen mit der Thematik in mehreren
interessanten Büchern
auseinandergesetzt, zum Beispiel in
„Illusion Freiheit?“ (2005). Der
wissenschaftliche
„Determinismus“ und das Kausalitätsprinzip
gerieten ins Wanken durch die
Erkenntnisse der Quantenphysik, da
die Position von subatomaren
Teilchen vollständig indeterminiert
und zufällig ist. Einstein, der die
Erkenntnisse Heisenbergs nicht
leugnete, meinte aber bezüglich der
Übertragung auf das Thema
Willensfreiheit, falls der Mond ein
Bewusstsein hätte, wäre er überzeugt,
er ziehe seine Bahn auf eigene
Faust, auf der Grundlage einer
Entscheidung, die er ein für alle
Mal getroffen habe. Ein Wesen,
begabt mit höherer Intelligenz und
Einsicht, das die Menschen und ihr
Tun beobachtete, „würde lächeln
über ihre Illusion, sie handelten
im Einklang mit ihrem eigenen freien
Willen.“ Das Problem bei all
unserem Nachdenken über unseren
eigenen „Geist“, über unser
Bewusstsein und unser „Ich“, ist
der Umstand, dass wir sozusagen
„befangen“ sind, im System der
Untersuchung selbst drinstehend und
somit wohl auch nicht in der Lage,
es in all seinen Implikationen
verstehen zu können. Der Umstand,
dass wir uns selbst einen freien
Willen zuschreiben, ist
unbestreitbar ein wichtiger Aspekt
unseres menschlichen Selbstverständnisses,
und
nur er gibt dem moralischen Denken
einen Sinn. Benjamin Libet
(1999) zitiert den Romancier Isaac
Bashevis Singer: “Das größte
Geschenk der Menschheit ist die
freie Wahl. Es ist richtig, dass wir
beim Gebrauch dieser freien Wahl
begrenzt sind. Aber das wenige an
freier Wahl, das wir haben, ist ein
solch großes Geschenk und ist
potentiell so viel wert, dass es
sich lohnt, gerade dafür zu
leben.“ Schon in der Schöpfungsgeschichte
wird ja die freie Wahl als ein
besonderes Geschenk Gottes an den
Menschen dargestellt, indem er vom
Baum der Erkenntnis zwar nicht essen
darf, es aber kann. Und die Schlange
lockt mit dem Versprechen „Ihr
werdet sein wie Gott und wissen was
gut und böse ist!“ Der „Sündenfall“
und die „Schuld“ sind demnach
nicht möglich ohne die Freiheit. Rüdiger
Safranski meint diesbezüglich in
seinem Buch „Das Böse“ (1997),
die Geschichte habe so gesehen
angefangen als Strafe und sei etwas,
wozu man verurteilt werde. An
anderer Stelle („Wieviel Wahrheit
braucht der Mensch?“ 1993) weist
er darauf hin, dass es einerseits
den Blick von außen auf unser
Handeln gibt, der nach den Gesetzen
der Kausalität erfolgt, und
andererseits die „innere
Erfahrung“: „Im Augenblick der
Entscheidung, es ist der Augenblick
der Freiheit,
ist jeder auf eine abgründige
Weise unbestimmt und muss sich
selbst
bestimmen.“ Es sei die
Angst vor der Freiheit und der damit
verbundenen Verantwortung, die uns
bereitwillig annehmen lässt, wir
seien gar nicht frei. Freiheit
habe auch mit der Suche nach Wahrheit
zu tun. Wenn man sich eingestehe,
dass bei jeder Wahrheitsfindung und
bei jeder
Wertentscheidung Freiheit
im Spiel ist, dann werde man
entdecken, dass in uns selbst eine
wahrheitsbildende Kraft vorhanden
ist, und das bedeute auch, dass man
sich nicht mehr auf eine absolute
Wahrheit berufen kann, was ebenfalls
beängstigend ist. Das
angeblich Wahre, das wir als unwahr
erkannt haben, ist doch auf eine
gewisse Art und Weise "wahr"
oder zumindest seelisch wirksam!
Die
Frage der
Willensfreiheit gehört wohl zu
denen, auf die es letztlich keine
Antwort geben wird, und sie wäre in
ihrer Rätselhaftigkeit einer Sphinx
durchaus würdig.
Neuere
Forschungen (Kathleen D. Vohs and
Jonathan W. Schooler: “The Value
of Believing in Free Will.” 2008)
haben gezeigt, dass
Versuchspersonen, denen vorher
eingeredet wurde, dass es keinen
freien Willen gäbe, sich anschließend
„unverschämter“
verhielten als eine Kontrollgruppe
und gemogelt haben. Es scheint so zu
sein, dass Menschen zumindest die Überzeugung
einer vorhandenen Willensfreiheit
benötigen oder dass diese
hilfreich ist.
C. G. Jung hat
darauf hingewiesen („Die Dynamik
des Unbewussten“ 1995), dass es
keinen Bewusstseinsvorgang gibt, der
nicht in einer anderen Hinsicht
unbewusst wäre, und daraus kann man
schließen, dass auch unser
Verhalten immer von unbewussten
Einflüssen zumindest mitbestimmt
wird, in unterschiedlichem Ausmaß.
Er spricht von einer „relativen
Freiheit“, die einfach dadurch
gegeben ist, dass der Mensch im
Laufe seiner Evolution zu einem
bewussten Lebewesen wurde, eine
prometheische Errungenschaft, und er
dadurch die Möglichkeit erhielt,
sich auch
gegen seine Instinkte und
die Archetypen zu entscheiden, sowie
im weiteren Sinn auch gegen die
kollektive Richtschnur. Der
im biblischen Bericht vom
Sündenfall
beschriebene Akt der Erkenntnis und
der dadurch gegebenen
Unterscheidungsfähigkeit zwischen
Gut und Böse vermittelt in
symbolischer Form diesen
Entwicklungsschritt und das dadurch
aufgekommene Schuldbewusstsein.
Gleichzeitig erhielt der
Mensch
somit quasi göttliche
Eigenschaften: „Ihr werdet sein
wie Gott!“ Die
Selbstbehauptung impliziert, dass
wir uns wie Luzifer auch gegen die
Gottheit entscheiden können, und
somit sind wir verschieden von ihr
und „schuldig“. In
„Aion“ (1976) weist Jung
aber
gleichzeitig darauf hin, dass manche
unserer Entscheidungen derart
instinktgesteuert seien, dass sie
wie Naturkräfte („Acts of God“)
anzusehen sind, und nur
nachträglich, um den Eindruck einer
moralischen Niederlage zu vermeiden,
vom bewussten Ich als freie
Willensentscheidung
hingestellt
werden. Der Sozialpsychologe John Bargh ("Vor dem
Denken", 2017) verweist diesbezüglich
auf bestätigende
Forschungsergebnisse, auf unsere Wünsche,
Ziele und Bedürfnisse, sowie das
damit verbundene Belohnungszentrum im Gehirn, bei
dessen Aktivierung wir uns auch auf
riskantes, gefährliches oder gar
schädliches Verhalten einlassen.
Wir sollten vorsichtig sein
hinsichtlich unserer Wünsche,
"denn sie können, ohne dass es
uns bewusst wäre, die Macht über
uns übernehmen.“ Diese Kräfte zu
kontrollieren, gelingt also nur
bedingt. Man kann sie unterdrücken, aber sie
kommen dann an anderer Stelle und
in veränderter Form zurück:
„In
verwandelter Gestalt
üb'
ich grimmige Gewalt.“ (Faust II). Dann
jedoch belastet mit
einem
Ressentiment, und so kann die an
sich harmlose Naturkraft zu unserem
Feinde werden. Die
individuelle Willensfreiheit reicht
demnach nur bis an die Grenzen
unseres persönlichen
Ich-Bewusstseins. In
seinen „Erinnerungen“ schreibt
Jung: „Man ist ein psychischer
Ablauf, den man nicht beherrscht,
oder doch nur zum Teil.“
Er
meinte, dass „gut“ und „böse“
nichts Absolutes seien, sondern
etwas Relatives, dass sie aber als
moralische Kategorien und Urteile
durchaus existieren und
psychologisch wirksam sind. Jenseits
des Menschen verlieren sie
allerdings ihre Bedeutung. Selbst
wenn wir uns hinsichtlich der
moralischen Bewertung unsicher sind,
müssen wir uns doch ethisch entscheiden,
wobei wir auf unser Unbewusstes und
unser innerstes Wesen hören
sollten: „Aber man muss, so hart
es klingen mag, die
Freiheit haben,
das bekannte moralisch Gute unter
Umständen zu
vermeiden und das als
Böse anerkannte zu tun, sollte es
die ethische
Entscheidung
verlangen.“
Und:
„Die Kraft des Lebens liegt
jenseits des moralischen Urteils.“
Es handelt
sich um jene schicksalbestimmende
Kraft, welche die Individuation
erzwingt. Hinsichtlich
der psychologischen Typen wird der
extravertierte Empiriker,
dem Prinzip der Kausalität folgend,
eher deterministisch eingestellt
sein, während der Introvertierte
die innere Freiheit und Unabhängigkeit
bejahen wird, was ihm gleichzeitig
ein enormes Machtgefühl verleiht.
Jung weist auch darauf hin, dass wir
im Affektzustand unfrei sind,
getrieben und genötigt von innen,
im Normalzustand hingegen frei.
Problematisch sei nur der
Normalzustand, wegen der Möglichkeit
der freien Wahl.
Nicht
in einem Normalzustand waren die
Teenager, die 2011 den
15 Jahre alten Seath
Jackson in Florida in eine Falle
lockten, ihn schlugen, erschossen
und dann verbrannten, um anschließend
rund ums Feuer sitzend zu feiern.
Unklar blieb, ob Jacksons ebenfalls
fünfzehnjährige Ex die treibende
Kraft war oder deren neuer Freund.
Es gab eine Todesstrafe und
lebenslange Haftstrafen ohne Bewährung.
Wohl niemand erkannte, dass es sich
um die unbewusste Inszenierung eines
archaischen Opferrituals handelte.
Von einer archetypischen Vorstellung
besessen handelten die Jugendlichen
in einem rauschartigen Zustand. Ein vollstrecktes Todesurteil ist ebenfalls eine archaische
Opferhandlung.
Allgemein wurde die Tat als
besonders grausam und unmenschlich
verurteilt, was in der Serie
„Killer Women“ von Piers Morgan
deutlich zum Ausdruck kommt. Niemand hätte
Verständnis dafür gehabt, hier das
jugendliche Alter und den
Ausnahmezustand,
in dem sich die Protagonisten zweifellos
befanden,
in Betracht zu ziehen.
Auf
alle Fälle sollte man das „non
liquet“ (nicht aufgelöst oder
nicht klar) in dieser Angelegenheit
berücksichtigen und damit
gleichzeitig das „in dubio pro
reo“. Auch Anja Schiemann hat im
Jahr 2012 in ihrer Untersuchung
„Unbestimmte Schuldfähigkeitsfeststellungen“
auf die Problematik hingewiesen,
wieder mit anderen Akzenten.
Strafrechtler sollten jedenfalls
aufgrund eines verbleibenden
Unbehagens nicht ohne Schuldgefühle
sein. Sie waschen sich ja auch die Hände
in Bezug auf die Umsetzung der
Sanktionen im Strafvollzug, dessen
Geschichte Michel Foucault in seinem
Werk „Überwachen und Strafen“
eindrucksvoll dargestellt hat. Hieß
es früher, die Rechte und die
Integrität des Souveräns seien
durch die Gesetzesübertretung
verletzt worden und müssten durch
die Bestrafung wieder instand
gesetzt werden, so ist es heute die
„Rechtsgemeinschaft“, die dies
verlangt. Im Zuge der Aufklärung
wollte man eine Reform des
Strafvollzuges durchführen, und
zwar im Sinne einer angemessenen und
sinnvollen Sanktion, also etwa die
Wiedergutmachung eines Schadens oder
eine Dienstleistung für die
Gemeinschaft. Jede Tat und jeder Täter
sollten demnach spezifisch beurteilt
und verurteilt werden. Aus
praktischen Erwägungen wählte man
aber zumindest für schwerere
Vergehen den Freiheitsentzug in
einem Gefängnis oder Zuchthaus, und
auch das fortdauernde Bemühen um
eine Strafvollzugsreform hat nichts
daran geändert, dass sich dort ein
von den Gerichten weitgehend unabhängiger
Bereich von „despotischer
Disziplinierung“ (Foucault)
eingerichtet hat. Inzwischen
wurde insbesondere in den USA, zum
Beispiel vom Sozialwissenschaftler
Loic Wacquant gezeigt, dass die
Strafjustiz darüber hinaus ein
politisches Instrument darstellt,
mit dem unterprivilegierte Bevölkerungsschichten
diszipliniert und allgemeine
Verunsicherungen abgebaut werden
sollen. Dies ist die letzte Bastion
des Staates, um sein Machtmonopol zu
demonstrieren! Im Jugendstrafrecht versucht
man immerhin hierzulande, den
Freiheitsentzug etwa
durch die Ableistung von
Arbeitsstunden zu ersetzen, zumal
man längst erkannt hatte, dass die
Gefängnisse zumindest keine
Besserung der Täter herbeiführen.
Mit ein wenig Phantasie wird man es
vielleicht schaffen, die
verschiedenen Gesichtspunkte zu berücksichtigen,
auch den Schutz der Bevölkerung vor
wirklich gefährlichen Tätern, der
aber ebenfalls immer nur bedingt möglich
sein wird, um so einen einigermaßen
humanen und sinnvollen Strafvollzug
einzurichten und vielleicht auf
Bestrafung ganz zu verzichten, was
wiederum den Begriff
„Strafvollzug“ obsolet machte.
Die „staatliche Anerkennung des
Unbewussten“ wird aber wohl noch
auf sich warten lassen, schon aus
dem Grund, dass die Feststellung,
wir seien eigentlich nicht wirklich
„Herr im Haus“, eine
narzisstische Kränkung darstellt,
ähnlich der Erkenntnis von Darwin,
dass der Mensch lediglich eine höher
entwickelte Tierart sei. Dies gilt
auch für die Bevölkerung
insgesamt, die aufgrund des
vorherrschenden „Gerechtigkeitsgefühls“
sowohl empört reagieren wird, wenn
Unschuldige verurteilt werden oder
wenn „Normale“ in die
Psychiatrie eingewiesen werden (der
Fall Gustl Mollath!), als auch wenn
„Schuldige“ freigesprochen
werden. Letzteres hängt dann mit
der Angst vor eigenen Triebdurchbrüchen
zusammen. Wenn der andere damit
durchkommt, dann kann ich es auch
tun!
Über
den Aspekt der Abschreckung und Prävention
wurde hier nicht weiter eingegangen,
aber man weiß, dass zum Beispiel
die Todesstrafe nicht die erwünschte
Abschreckungswirkung erzielt, und
dies gilt möglicherweise auch für
andere Strafandrohungen. Der
Abschreckungsgrundsatz (Generalprävention)
sollte ohnehin nur noch sehr
eingeschränkt angewendet werden,
und zwar lediglich dann, wenn zuvor
bereits eine „gemeinschädliche“
Zunahme gleichartiger Straftaten zu
verzeichnen war. Auch
das Prinzip der „Spezialprävention",
das auf den einzelnen Straftäter
abzielt, rechtfertigt Gefängnisstrafen
nicht wirklich. Ein
junger Gefängnisdirektor hat
aufgrund seiner Erfahrungen ein Buch
veröffentlicht, in dem er für die
Abschaffung der Gefängnisse plädiert.
(Thomas Galli: „Die Schwere der
Schuld. Ein Gefängnisdirektor erzählt.“
2016)
Und
Kai Schlieter zeigte in seiner
Recherche „Der Knastreport“
(2011), in welchem Ausmaß im
Strafvollzug Willkür und Renitenz
gegenüber von Gerichtsbeschlüssen,
sogar höchstrichterlichen, immer
wieder an den Tag gelegt wird. Von
Respekt gegenüber der Menschenwürde
und effizienter Resozialisierung ist
zudem wenig zu spüren!
Noch
ein Wort zu den
forensisch-psychiatrischen
Gutachtern, und das hier Ausgeführte
gilt analog für sonstige
psychiatrische und psychologische
Gutachter, und zwar hinsichtlich von
mutmaßlichen oder tatsächlichen
Straftätern. Falls es sich um Ärzte
handelt, können sie sehr schnell in
einen Konflikt geraten zwischen
ihrem ureigentlich ärztlichen
Auftrag, Leben zu erhalten und die
Gesundheit der ihnen anvertrauten
Menschen zu fördern (entsprechend
dem Hippokratischen Eid), und dem
Auftrag eines Gerichts, bezüglich
eines solchen Menschen Fragen zu
beantworten, wobei
dies meist von existenzieller Wichtigkeit
für den Betroffenen ist und seiner
Gesundheit und seinem Leben u. U.
sehr schaden kann. Es besteht die
Gefahr, dass der Gutachter, oft in
gewisser Weise abhängig von den
Aufträgen der Gerichte, von deren
Erwartungen mehr oder weniger
unbewusst geleitet wird und diese
auch verinnerlicht hat. In einer Art
von höherer „Staatsräson“
neigt er dann dazu, nicht mehr den
individuellen menschlichen und
gesundheitlichen Aspekt vordergründig
im Auge zu haben, sondern
irgendwelche Prinzipien, die
angeblich dem großen Ganzen
dienlich sein sollen. Knifflig
wird es in der Tat, wenn die Bedürfnisse
des Probanden abgewogen werden müssen
gegen den Anspruch der Gesellschaft,
vor wirklich gefährlichen Straftätern
oder psychisch Kranken geschützt zu
werden. Dabei wird der Arzt Angst
haben, bei einer im Nachhinein sich
als fehlerhaft erweisenden
Empfehlung seine Reputation zu
verlieren und wird entsprechende
Vorsicht walten lassen, oft zum
Nachteil des Betroffenen. Er wird sich
vielleicht auch von seiner persönlichen
Verantwortung zu entlasten suchen,
indem er darauf verweist, dass
letztlich ja die Gerichte
entscheiden und er nur Empfehlungen
ausspricht. Dabei wird aber nicht
berücksichtigt, dass die Gerichte
de facto den Gutachtern meist sehr
willig Folge leisten, da sie selbst
wiederum ihre Verantwortung
zumindest teilweise auf den
Gutachter abschieben können.
Schwierig wird es allerdings, wenn
mehrere Gutachten vorliegen, die
sich widersprechen,
was
nicht überraschen sollte, da
Kriminalprognosen eher
Kaffeesatzleserei als wirklich
wissenschaftlich begründbare
Voraussagen sind (siehe hierzu die
Studie von Michael Alex von 2010). Tatsächlich verfügen
die Gutachter dennoch über sehr
viel Macht, die sie vielleicht allzu
gern ausüben und auskosten. So können
unbewusste sadistische Tendenzen und
Bedürfnisse nach Beherrschung von
Menschen ungestraft befriedigt
werden, und das Ganze wird auch noch
mit einer beträchtlichen Vergütung
und hohem gesellschaftlichen Ansehen
belohnt. Das Gleiche gilt übrigens
auch für Richter und
Staatsanwälte (siehe: „Der Verbrecher und
seine Richter. Ein
psychoanalytischer Einblick in die
Welt der Paragraphen“
von
Franz Alexander und
Hugo Staub, 1929). Man sollte in
diesem Zusammenhang immer an die
mehr als zweifelhafte
Rolle von vielen Ärzten,
Psychiatern und Richtern im
„Dritten Reich“ denken. Allzu
leicht wurden sie zu „Staatsbütteln“
oder gar Vollstreckern und schoben
ihre Verantwortung von sich. Auch
der Begriff des
„Befehlsnotstands“ gehört
hierher.
„Richtet
nicht, auf dass ihr nicht gerichtet
werdet!“
(Matthäus 7,1)
Kastrationsangst
und Angst vor Zerstückelung
Beide
sind miteinander verbunden, und
Ersteres ist nur eine Sonderform des
Zweiten. Neueste psychologische
Forschungen haben gezeigt, dass die
körperliche Unversehrtheit ein sehr
starkes Motiv ist, und dass die
unbewusste Aktivierung der
entsprechenden Gehirnzentren unser
Verhalten in vielerlei Hinsicht
beeinflusst (siehe John Bargh „Vor
dem Denken" 2017). Wenn Donald
Trump große Angst vor
Krankheitskeimen hat und nur sehr
ungern Hände schüttelt, so ist
dies ebenso eine Folge dieser
Urangst vor Verletzung wie alle
Arten von Fremdenfeindlichkeit und
Rassismus. Stellte doch in früheren
Zeiten der Unbekannte meist eine
Bedrohung dar, und nur die eigene
Gruppe war einigermaßen vertrauenswürdig.
Tiefenpsychologisch
gesehen handelt es sich letztlich um
die Angst vor dem Tode, vor der
Vernichtung. Sigmund Freud sah die
Kastrationsangst im Zusammenhang mit
dem Ödipuskomplex, der beim Jungen
dazu führt, dass er sich vor der
Bestrafung durch den Vater fürchtet,
weil er die Mutter begehrt und für
sich haben will. Beim Mädchen
entstehe sie dadurch, dass sie das
Fehlen eines Penis unbewusst als die
Folge einer Kastration ansehe.
Jacques
Lacan entwickelte die Freudsche
Theorie weiter und bezeichnet die
„Kastrationsdrohung“, der das
Kind sich ausgesetzt fühlt, als „Nein-des-Vaters“
(Wikipedia). Dieses Nein kann sowohl
vom Vater selbst als auch von
anderen Personen „Im-Namen-des-Vaters“
ausgesprochen werden. Da für Lacan
der Name-des-Vaters auch die Gesetze
der Gesellschaft repräsentiert, gehört
der „Kastrationskomplex“ der
symbolischen Ordnung an. Durch das
Nein des Vaters wird das Kind in die
symbolische Ordnung der Gesellschaft
und der Gesetze eingeführt. Lacan
bezeichnet die Kastration, die ja
meist nur eine angedrohte bleibt,
und die mit dieser Drohung
einhergehende Hinwendung zum
Symbolischen, deshalb auch als
„symbolische Kastration“. Mit
dem Eintritt ins Symbolische geht
die Kastrationsangst teilweise auf
das durch den Vater repräsentierte
Symbolische selbst, den „großen
Anderen“ über. Sie wäre also
auch Ausdruck der Angst vor Autoritäten,
vor der Staatsmacht und letztlich
vor Gott.
Erich
Neumann („Ursprungsgeschichte des
Bewusstseins“ 1974), ein
Jungianer, versteht die
Kastrationsangst nicht nur als
Beiwerk der ödipalen Triangulation,
sondern als ursprünglich verbunden
mit dem Archetypus der
„furchtbaren Erdmutter“, die zur
Befruchtung das Blut, den zerstückelten
Körper und den Phallus des
„Sohngeliebten“ als Opfer
einfordert. Nur so wird neues Leben
möglich, durch das Sterben und die
Wiederauferstehung oder
Wiedergeburt.
Das Thema der Zerstückelung
taucht in der Mythologie immer
wieder auf, etwa bei Dionysos, und
hat eben mit Opferung, Tod und
Neugeburt zu tun. Uranos,
der Himmel in Göttergestalt, von
Gaia ohne Begattung hervorgebracht,
verbannte alle seine Kinder in den
Tartaros, was Gaia erzürnte. Sie
war es, die den Titanen Kronos anstiftete, mit
dem „grauen Stahl“, einer
gewaltigen Sichel, den Vater zu
entmannen. Aus dessen Blutstropfen
entstanden u. a. die drei Erinnyen
(Furien). Seither
verfolgen die Erinnyen jede
Verletzung mütterlicher Ansprüche,
selbst wenn diese nicht
gerechtfertigt sind. Aus dem Samen
des abgetrennten und ins Meer
gefallenen Geschlechtsteils entstand
die Liebesgöttin Aphrodite, die
Schaumgeborene. Aufgrund der
Kastration entstand
also Gutes und
weniger Gutes!
Die
Geschichte hat allerdings nur
vordergründig mit der Kastration zu
tun, denn symbolisch geht es
letztlich um die Trennung zwischen
Himmel und Erde, einem weit
verbreiteten Mythologem.
Es
handelt sich um die matriarchale Frühstufe
des „Großen Weiblichen“ oder
des „Großen Runden“, dem
„Ouroboros“, der sich selbst in
den Schwanz beißenden Schlange,
sowie mit der Entmannung und Zerstückelung
des Sohngeliebten, dessen Blut und
dessen Phallus die große Erdgöttin
befruchten müssen, um neues Leben
hervorzubringen. Es geht um den
archetypischen Opfermythos, der in
der Vorzeit dazu führte, dass
Blutopfer, auch Menschen- und
Kinderopfer vollzogen wurden. Reste
davon finden sich in Beschneidungs-
und Genitalverstümmelungsriten.
Kriege sind ebenfalls
eine Aufrechterhaltung dieser
Opferrituale bis in unsere Zeit!
Innerpsychisch kommt die Bedrohung
jeweils aus dem Unbewussten, und ihm
wird vom bewussten Ich das Opfer
dargebracht, in der Form der
Hingabe, der Selbstdarbringung. Im
Verlauf der Entwicklung gibt es eine
weitere Art der Kastration, eine
phallisch-chthonische, wobei es auch
zur Selbstentmannung kommen kann
(„Eunuchen für das Himmelreich“
Mt. 19,12), und schließlich noch
eine „obere Kastration“, die mit
dem oberen, „solaren“ Männlichen
zu tun hat und mythologisch mit dem
Verlust der Haare oder mit der
Blendung dargestellt wird. Die Überwindung
der Kastrationsangst ist
gleichzusetzen mit der Überwindung
der Mutterherrschaft.
All das hat wenig zu tun mit der ödipalen Triangulation, sondern
eher mit der ursprünglichen
Vorherrschaft des Weiblichen, des
Unbewussten, der „Großen
Mutter“, mit der Trennung von Erde
und Himmel, sowie mit der Entstehung
des Bewusstseins, des höheren
Geistigen, Männlichen. Man könnte
also die Angst vor der Kastration
letztlich als Angst vor der Überwältigung
durch das Unbewusste ansehen, als
Angst vor dem „Seelenverlust“,
vor dem „Seelentod“. Vor diesem
Hintergrund muss man auch den
Geschlechterkrieg und den Feminismus
ganz neu überdenken. Die Bedrohung
der Frau kommt nicht von der
angeblichen Vormachtstellung des
Mannes oder vom „Penisneid“,
sondern von der Bedrohung durch
einen möglichen Einbruch des
Unbewussten, der wiederum letztlich
mit der Angst vor der furchtbaren
Erd- und Todesmutter zu tun hat, und
dies gilt genau so für den Mann.
Manche Frau wird meinen, dass so
etwas nur von einem Mann stammen könne.
Es sei eine elegante Art und Weise,
das Problem vom Tisch zu bekommen
und aufzulösen oder gar den Spieß
herumzudrehen. Aber darum geht es
nicht! Das ist keine politische Überlegung
und hat mit der tatsächlichen
Benachteiligung von Frauen, die es
natürlich unbedingt zu beseitigen
gilt, nur am Rande zu tun. Es geht
um hypothetische unbewusste Vorgänge,
deren Aufhellung vielleicht zu einem
kreativeren Umgang mit den
manifesten Konfliktzonen zwischen
den Geschlechtern führen könnte!
Die ursprüngliche Vorherrschaft des
Weiblich-Mütterlichen und damit des
Matriarchats, wurde mit der Zeit
abgelöst durch das Patriarchat. Ein
notwendiger Vorgang, um die Dominanz
des Unbewussten zu überwinden, aber
auch ein Zeichen der Angst vor einer
erneuten Überflutung und Überwältigung
durch das Unbewusste. Die Geschichte
von der Sintflut hat symbolisch
damit zu tun, ungeachtet der von der
Menschheit tatsächlich erlebten
Flutkatastrophen. Inzwischen hat
sich, wie bereits dargelegt, die
Situation verschoben. Eine Überbewertung
des Geistig-Männlichen hat zu einer
Vernachlässigung oder gar Leugnung
des Unbewussten geführt. Hier wäre
ein Umdenken dringend nötig! Die
Analytische Psychologie setzt in
Anlehnung an C. G. Jung den
Schwerpunkt auf die Individuation,
also eine gelungene Integration des
Unbewussten ins Bewusstsein und
damit eine Re-Zentrierung und
Vervollständigung des Selbst. Das hört
sich einfach an, ist aber mit
erheblichen Mühen und einer langen
Wegstrecke verbunden. Es handelt
sich um einen Reifungs- und
Entwicklungsprozess, den viele
Menschen erst gar nicht oder kaum in
Angriff nehmen. Sie werden dadurch
auch eher zum Spielball von
archaischen Ängsten, Antrieben und
kollektiver Verblendung. Frauen und
Männer sollten also nicht
gegeneinander kämpfen, sondern
miteinander, hin zum höheren, großen,
ganzheitlichen Menschen, dem Anthropos. Wir
haben alle dieselbe große Aufgabe:
uns weiterzuentwickeln, zu uns
selbst zu finden durch die Begegnung
mit uns selbst und mit dem andern,
und uns auf den unausweichlichen Tod
vorzubereiten. Natürlich gibt es
noch viele andere wichtige Aufgaben
zu bewältigen, kleinere und größere.
Eine Welt zu schaffen und zu
erhalten, in der es sich lohnt, zu
leben und in der es möglichst allen
gut geht, und nicht nur einigen
wenigen Privilegierten. Eine Welt
ohne Ungerechtigkeiten, Ausbeutung,
Unterdrückung, Krieg und Folter.
Die
Angst vor Zerstückelung oder
Fragmentierung wurde speziell von
Heinz Kohut theoretisch eingearbeitet
in seine Selbstpsychologie, einer
Weiterentwicklung der freudschen Psychoanalyse. Er
unterscheidet sie von der
Kastrationsangst und sieht
entwicklungspsychologisch einen
Beginn im frühen Säuglingsalter. Die Angst vor der Fragmentierung betrifft die Identität
und die Aufrechterhaltung eines sich
vom Nicht-Ich unterscheidenden und
vereinten Selbst, was durch die
Angst vor der Zerstörung seines
eigenen Körpers oder seiner eigenen
Psyche zum Ausdruck kommt.
Ein Fragmentierungsprozess könne
eintreten im Falle eines
destruktiven Umgangs der
Beziehungspersonen mit dem Kind und
sei als ein Schutzmechanismus zu
verstehen, um einen Zerfall, eine
Auflösung des Selbst zu verhindern,
der zur Psychose führen könnte.
Dieser Prozess könne deshalb auch
als eine Abwehrform und eine Überlebensstrategie
angesehen werden. Das Selbst fühle
sich in seinem Kern bedroht und
entwickle in der Folge
Selbstfragmente, sowohl auf der
Erlebens- als auf der
Handlungsebene, die nach außen als
Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten
in Erscheinung treten. In der
Therapie gelte es, diese
fragmentierten Selbstanteile als
Anpassungsleistung zu verstehen und
auf eine Integration hinzuarbeiten
(Karl-Heinz
Brisch: "Bindungstraumatisierungen:
Wenn Bindungspersonen zu Tätern
werden." 2016).
Angst ist nicht nur etwas Schlechtes, außer sie nimmt überhand
und lähmt uns, schränkt uns übermäßig
ein, macht uns duckmäuserisch. Sie
hat Signalwirkung, soll uns vor
Gefahren warnen oder uns auf ungelöste
innere Konflikte aufmerksam machen.
Sie kann ein Antrieb sein, sich nach
innen zu wenden, um die scheinbar
irrationalen Ängste, etwa vor
Spinnen, besser zu verstehen. Das
Symbol ist ein erster Fingerzeig aus
dem Unbewussten und weist uns den
Weg: S. Freud sah die Spinne als
Symbol des weiblichen Genitales. Sie
könnte also mit der Sexualität
zusammenhängen, mit dem Weiblichen.
Das Spinnen hat aber auch zu tun mit
dem Schicksal: es gibt die Große
Weberin, die unseren Schicksalsfaden
spinnt. Eine der Moiren schneidet
den Faden irgendwann ab, auch ein
Kastrationssymbol. Spielt also die
Angst vor der Zukunft eine
Rolle und
vor dem, was sie für uns bereit hält,
auch das Ende? Die
"alte Spinnenfrau" spielt
eine wichtige, positive Rolle in
indianischen Schöpfungsmythen und Märchen,
etwa bei den Hopi. Die Spinne ist ein
Gliederfüßler, der Fallen stellt
und Insekten
einfängt mit einem
kunstvoll gewobenen Netz. Sie hat
einen Giftstachel, mit dem sie das
Opfer lähmt und tötet, bevor sie
es aussaugt, wie ein Vampir. Weckt
die Spinne also Ängste, in eine
Falle zu tappen, sich zu verstricken
in etwas Unausweichliches? Gelähmt
und getötet, ausgesaugt zu werden?
Ängste, die wohl in jeder
Liebesbeziehung mit eine Rolle
spielen, da wir in ihr einen Teil
unserer Autonomie aufgeben, vor
allem beim Liebesakt. Dazu passend
die Fantasie von den
Spinnenweibchen, die das Männchen
nach der Begattung auffressen. Der
Mohr hat seine Schuldigkeit getan!
In
Träumen kann
das Kastrationsthema in ganz
unterschiedlicher Form auftreten.
Die Gefangenschaft etwa gehört wie
der Verlust der Haare und die
Blendung (Ödipus, Simson, Horus)
symbolisch zur „oberen
Kastration“ und hat mit dem
„oberen Männlichen“ zu tun, wie
bereits erwähnt. Sie ist meist
nichts Endgültiges, sondern endet
mit der Befreiung und dem Sieg!
Abgeschlagene,
abgetrennte Körperteile, jede Art
von Verstümmelung und Zerstückelung,
Unfälle gehören hierher.
Hundebisse und sonstige Angriffe
durch Tiere mit scharfen Zähnen.
Freud bezeichnete Träume vom
Verlust eines Zahnes als typische
Kastrationsträume. Zahnarztträume
sah er als Ausdruck homoerotischer Wünsche,
aber ich vermute, dass sie meist
Kastrationsträume sind. Aus akutem
Anlass und einem schmerzenden und
mehrfach behandelten Zahn ging es
bei mir in einem eigenen Traum zum
Beispiel darum, dass ich mit einem
schmerzenden und wackeligen Zahn zum
Zahnarzt ging. Als ich diesen Traum
meinem damaligen Therapeuten erzählte,
wurde ich an dieser Stelle schon
unterbrochen,
und er meinte, dass nun er
den Zahn ziehen sollte. Ich hatte
den Traum nämlich teilweise bereits
selbst gedeutet und den Zahnarzt mit
dem Therapeuten gleichgesetzt. Aber
der Traum verlief ganz anders! Ich
hatte mir den Zahn selbst gezogen
und zeigte ihn dem Zahnarzt
(Therapeuten). Der meinte dann, er könne
das schon hinkriegen und den Zahn
wieder einsetzen. Dahinter steckte
also der Wunsch, der Therapeut könnte
mir dabei helfen, das Problem zu lösen.
Die Frage war, ob dies darin
besteht, den Zahn zu ziehen oder
darin, ihn wieder einzusetzen. Im
Traum war es das Wiedereinpflanzen,
also die Reparatur, nicht aber die
radikale Lösung!
Träumt
man davon, dass in der eigenen
Wohnung oder im Haus Schäden
entstanden sind, so hat dies meist
auch mit unserem Thema zu tun, da es
sich um Selbstsymbole handelt.
Fahrzeuge sind oft phallische
Symbole, aber auch Libido-
(Libido im Sinne von psychischer
Energie) und Selbstsymbole. Kommen
Fahrzeuge also abhanden oder werden
beschädigt, fehlen Teile, so
verweist dies auf Kastrationsängste.
In einem meiner Träume ging es um
mein Auto: Ich parke, steige aus,
und plötzlich verwandelt sich der
Wagen in ein Moped. Beim Schließen
des Benzinhahns fällt dieser
runter, und ich befürchte, dass er
ins Wasser nebendran fällt, was
aber nicht passiert. Dann sehe ich
zwei Jungen, die einen schweren
Stein auf ein Auto zurollen und
dessen Tür beschädigen. Ich laufe
ihnen hinterher und sage, dass ich
ihre Eltern informieren werde, aber
sie versuchen, mich zu überzeugen,
dies nicht zu tun. Ich zögere und
denke an einen sehr strengen Vater,
der sie misshandeln könnte. Und
dass der entstandene Schaden von der
Versicherung bezahlt werde.
Es
gab Zeiten ohne Auto in meinem
Leben. Erst war es lange das Fahrrad
in der Jugendzeit, dann das Moped
oder kleinere Motorräder. Im Traum
findet also eine Rückkehr in die
Vorautozeit statt, und ich muss mich
wieder mit dem Benzinhahn befassen,
der natürlich ein schönes Symbol für
das Genitale ist, zumal er hier auch
noch abfällt. Er soll nicht ins
Wasser fallen, was vordergründig
aus Umweltgründen motiviert sein könnte,
symbolisch aber mit der Welt des Mütterlichen
zu tun hat. Die Gefahr ginge ja auch
weniger vom Hahn aus, sondern vom
evt. aus der Leitung fließenden
Treibstoff. Dann geht es um ein
anderes Auto und auch wieder um die
Besorgnis wegen eines entstehenden
Schadens, der nicht mehr zu
verhindern ist. Man kann aber die
„bösen Buben“ zur Rechenschaft
ziehen und droht ihnen, die Eltern
zu benachrichtigen. Aus Rücksicht
auf einen möglicherweise gewalttätigen
Vater unterlässt man dies jedoch
und vertraut auf die
KfZ-Versicherung. Der Steinbrocken
erinnert an etwas Gewichtiges und
Festes, aber auch an Sisyphos, der
einen Felsblock immer wieder einen
Berg hinauftragen musste, und an
Camus, der herausfand, dass im
scheinbar Absurden doch noch ein
Sinn und sogar Glück verborgen
liegen können, denn der Mann hat
Zeit, um über Gott und die Welt und
über sich selbst nachzudenken, also
zu philosophieren. „Man muss sich
vorstellen, dass Sisyphos glücklich
war.“ Das Rollen gegen die Wagentür
im Traum erscheint gleichfalls als
etwas Unsinniges, aber
Knabenstreiche haben oft so etwas an
sich. Da hilft nur Erziehung, aber
besser nicht mit Brachialgewalt! Die
Angst vor einem allzu strengen Vater
taucht auf. Vielleicht war ja die
Aktion der Knaben eine Art
symbolische Bestrafung ihres gewalttätigen
oder verantwortungslosen Vaters und
hätte so doch noch einen wenn auch
verborgenen Sinn. (Siehe:
„Analyseträume“, 2014, von
Walter Pollak)
Es
handelte sich um eine
„freudianische“ Analyse, und wie
zu erwarten war die Traumsymbolik
teilweise dementsprechend, aber
schon damals enthielt der Traum
zudem mythologische und
archetypische Elemente!
Traumbilder
entstammen dem Unbewussten, und S.
Freud meinte, sie seien der „Königsweg“
dorthin. In früheren Zeiten glaubte
man, die Träume sagten die Zukunft
voraus. Heute weiß man, dass sie
dies nicht tun, aber sie können uns
wertvolle Hinweise geben, wie die
"innere Stimme", und sie
ermöglichen den Zugang zum
Unbewussten. Ihre Deutung ist
schwierig, da Traumsymbole
mehrdeutig sind. Man sollte immer
auch die Einfälle zum Traum des
jeweiligen Träumers beachten, falls
verfügbar.
Und
so ist dieses Kapitel auch eines über
Träume geworden, wenn auch mit dem
Schwerpunktthema Kastration.
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